Weit weg

Ich weiß gar nicht mehr, was den Ausschlag gab dafür. Plötzlich erinnerte ich mich an meine Tour mit meinem Freund Nobs in die USA. Das ist jetzt schon so lange her, dass ich nicht mehr sagen kann, ob 1980 oder 1981. Alle um uns herum reisten weg. Nach Indien, nach Thailand, nach Kanada oder in die USA. Manche suchten in Südamerika oder Kuba ihr Heil. Hauptsache weit weg. Wir hatten je eigene Gründe das Weite zu suchen. Mir war die Bundeswehr auf den Spuren und Nobs trauerte um eine verflossene Liebe. Wir jobbten damals in der Fernsprechauskunft Freiburg. Eine Einrichtung, die es heute nicht mehr gibt. Wir suchten für die Anrufer Telefonnummern raus und gaben sie ihnen weiter. Hierfür nutzten wir einen Mikrofichekatalog. Auf postkartengroßen Filmkarten waren bis zu 254 Telefonbuchseiten abgebildet. Unsere Aufgabe bestand darin, die passende Karte zu finden und anschließend im Vergrößerungsgerät die gewünschte Telefonnummer anzeigen zu lassen.

Dieser Vorgang war begleitet von einigem Lärm, der dadurch entstand, dass die ausgewählte Mikrofichekarte auf einen Glasschieber aufgelegt wurde. Dessen Abdeckung klapperte beim Hochnehmen, beim Zuklappen und beim Reinschieben über die Leselampe. Wenn das bis zu fünfundzwandzig Menschen gleichzeitig tun, dann wird ’s laut. Als Männer waren wir eine seltene Spezies in diesem Arbeitsumfeld. Hier waren überwiegend Frauen beschäftigt. So kam es öfter vor, dass sich eine Anruferin verwundert zeigte, wenn sie eine Männerstimme hörte. Ein Mann, ein Mann! rief mir eine in den Kopfhörer. Ja, das gibt es auch, antwortete ich. Was machen Sie heute nachmittag, wollte sie wissen. Auf meine Antwort, dass ich arbeite, lud sie mich ein zu ihr zu kommen, um gemeinsam zu arbeiten. Tja, was daraus wohl geworden wäre?

Eine andere Anruferin war in großer Aufregung. Sie suchte eine Person von der sie nur wusste, wie sie mit Vornamen heißt und dass sie in Boppard wohnt. Und sie hätte einen japanischen Nachnamen, mehr wusste sie nicht. Es war abends, es war nicht viel los, also suchte ich das Telefonbuch von Boppard nach diesem Vornamen durch. Während ich von A wie AAA-Spezialservice bis Z wie Zygninsky alles durch scannte, erzählte mir die junge Frau aus ihrem Leben. Irgendwann hörte ich sie mit Alupapier hantieren. Sie hatte eine Tafel Schokolade geöffnet und aß nebenbei davon. Das sei gemein, sagte ich ihr. Während ich hier arbeite, isst du Schokolade. Ab Buchstabe M waren wir beim Du. Nach einer Stunde gab sie auf, es sei nicht mehr so wichtig, meinte sie. Aber sie käme gerne vorbei und brächte eine Schokolade mit, wenn ich Feierabend hätte. Als wir uns trafen vor dem Eingang zum Fernmeldeamt, da hatte ich die gesuchte Nummer gefunden, sie überreichte mir eine Tafel Vollmilchschokolade und wir verbrachten einen zauberhaften Abend miteinander.

Norbert und ich, wir entschlossen uns, gemeinsam in die USA zu reisen. Wir wollten den ganz großen Trip machen von Ost nach West. Wir würden ein Auto überführen, wir würden am Grand Canyon Halt machen und wir müssten unbedingt San Francisco besuchen. Und Kanada, ergänzte ich. Wir müssen unbedingt nach Québec. Von Europa aus betrachtet, sind dies alles keine Entfernungen. Vor Ort sieht es ganz anders aus. Dennoch kamen wir nach New York, besuchten Québec, arbeiteten in Newport News, überführten einen Kleinwagen von dort nach Los Angeles. Am Grand Canyon verbrachten wir drei Tage, wanderten in den Indian Trail und trafen zwei nette Schweizerinnen. Ihnen reisten wir hinterher nach San Francisco. Wir rechneten mit drei Monaten Aufenthalt, daraus wurden nur zwei. Als wir an der Westküste merkten, dass unser Geld nicht reichen wird, bestiegen wir einen Greyhound und ließen uns zurück nach New York fahren. Am JFK Airport bestiegen wir unser Flugzeug zurück nachhause.

Dazwischen passierte viel und es gäbe ebenso viel zu erzählen. Aber, wie gesagt, aus irgendwelchen Gründen kam mir dieser Trip in den Sinn. Ich fragte Nobs nach Bildern und bekam heute eine ganze Menge davon. Ein Flashback in die Vergangenheit mit Erinnerungen an Orte, an Personen, an Begegnungen überfiel mich. Und der Gedanke, dass es solche Verrücktheiten sind, an die ich mich am Ende meines Lebens gerne erinnern möchte. Nicht an die vielen Jobs, die vielen Angestelltenverhältnisse mit ihrem täglichen Einerlei. Abstecher ins Unbekannte bleiben mir mehr in Erinnerung als das Absolvieren des immer Gleichen. Es sind nicht so sehr die Landschaften, es sind die Begegnungen mit Menschen, an die ich mich erinnere. Ich sollte mir überlegen, wie viele dieser Ausnahmesituationen ich mir noch erlauben kann. Wer weiß, vielleicht ein weiterer Tripp nach Kanada, um Herbert Hallo zu sagen?

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