Stimmen hören

Auf einer Bahnfahrt Richtung Norden setzt sich in Würzburg ein älterer Mann neben mich. Wir kommen ins Gespräch, weil er zwei Zeitungen vor sich gelegt hatte und darin blättert. Die eine war „Das Parlament“, die andere „Die jüdische Welt“. Er zeigt auf eine Artikelüberschrift zum Thema Krieg in der Ukraine mit der Forderung nach Verhandlungen. Er sieht mich an und meint, da gäbe es doch kein wahr oder falsch, man könne sich doch keine Meinung dazu bilden. Wer von uns sei denn dabei gewesen in diesem Krieg. Und selbst dann, so denke ich, könnte man nur einen kleinen Ausschnitt benennen oder bezeugen, jedoch nicht das große Ganze. Er sitzt neben mir und mir kommt es so vor, als überlege er sehr gründlich bevor er seine Sätze ausspricht. Er sagt, man könne doch gar nichts wissen und, dass es ihn jedes Mal erschrecke, wenn Menschen so überzeugt sind von ihrer Position und Meinung.

Auf meine Nachfrage, ob er denn persönliche Erfahrungen gemacht habe mit Menschen, die eine Verhandlungslösung ausschlössen, nennt er die Frau seines Cousins. Sie habe ihn heftig und laut attackiert, als er auf einen seiner Meinung nach vernünftigen Beitrag einer AFD-Politikerin aufmerksam machte. Plötzlich musste er sich gegen Beschuldigungen wehren er sei rechts, antisemitisch und homophob. Kontaktschuld nennt sich dies heute. Allein das Erwähnen von Einverständnis in der Sache lässt einen Menschen zum Alliierten einer Partei als Ganzes werden. Natürlich blieb nicht aus, dass er sich distanzierte. Es ging ihm gar nicht um die AFD, es ging um die klaren, deutlichen Worte dieser Politikerin. So kommen wir im weiteren Verlauf auf seine Berufsbiografie zu sprechen und ich erfahre, er sei ein Lehrerkind. „Das klebt an einem bis zum Schluss“, ergänzt er. Einen technischen Beruf hatte er fast zu Ende erlernt, dann jedoch sei er umgeschwenkt auf Erzieher. Auch diesen habe er fast zu Ende erlernt. In beiden Berufsfeldern erprobte er sich als Praktikant, Jobber und Aushilfserzieher. Dann suchte er nach seinem eigenen Weg als Physio- und Cranio-Sakral-Therapeut. Dennoch empfand er sich fortlaufend als Außenseiter.

Wie wir darauf kamen, weiß ich nicht, doch irgendwann zwischen Fulda und Hannover spricht er von den Stimmen, die er hören kann. Stimmen von Verstorbenen, von jenen, die ihren Weg ins Jenseits nicht zu Ende führen konnten. Darunter sind verstorbene Verwandte. Aber auch Fremde, die sich bei ihm einnisten, weil sie ihn manipulieren wollen auf Geheiß fremder, böser, Mächte. Mittlerweile ist es ihm gelungen, mit diesen in Koexistenz zu leben. Zuerst habe er versucht, sie zu verjagen, was jedoch deren Widerstand erhöhte. Von den „guten“, den wohlmeinenden Stimmen, konnte er erfahren, dass es besser ist, die Bösen nicht zu verjagen, sondern zu überreden das Weite zu suchen und zurückzukehren in ihre Welt. Mit den Stimmen in Koexistenz zu leben sei nicht einfach. Er ist froh, in Hamburg, wo lebt, eine Selbsthilfegruppe gefunden zu haben. Es gibt solche auch in anderen Städten, erwähnt er. Natürlich versuchten die Psychologen, diesen Menschen zu helfen. Manche hätten dieses Phänomen aufgrund von Kindheitstraumata oder anderen Ereignissen. Anderen könnte eindeutig eine Persönlichkeitsstörung nachgewiesen werden. Man therapierte diese meist mit der Verabreichung von Psychopharmaka.

So redet er in ruhigem Ton weiter und mir ist sonderbar zumute. Da spricht einer über mir sehr unbekannte Phänome und ich höre ihm zu als teilte er mir mit, was er am Vortag zu Mittag gegessen hatte. Doch erinnere ich mich auch an jene Begegnung mit einer Schweizerin, die als Medium zur geistigen Welt wirkte. Ich erstellte damals die Druckvorlage ihres Buchprojektes. „Im Kontakt mit der inneren Stimme“, lautete der Titel und am Ende sollten es drei Bücher à 800 Seiten werden. Sie wollte ihren Grundkurs zum Erwerb der geistigen Fähigkeiten in Form eines Selbstlernmediums anbieten. Es geht darin um Hell-Hören, Hell-Sehen und Hell-Spüren. Den Interessenten wurde ermöglicht, sich in die Welt der feinstofflichen Realität einzufühlen und diese Fähigkeiten zu erwerben. Ich war zwar nur für den Buchsatz zuständig, konnte mich vor Neugier jedoch nicht davon abhalten, manche Inhalte zu lesen. Jetzt erinnerte ich mich an einen immer wiederkehrenden Hinweis, dass all die Übungen niemals im Alleingang eingeübt werden sollten. Es sei wichtig, andere Menschen um sich zu haben mit denen man die eigenen Erfahrungen reflektiert. Dies sorgt für die notwendige Verbindung zur materiellen Welt und verhindert, dass sich jemand in der Welt des Geistigen verliert.

Das berichte ich meinem Gesprächspartner und er kann es nur bestätigen. Dennoch weiß er sich in einer ungewöhnlichen Position den Menschen seiner Umgebung gegenüber. Auch mit dieser Erfahrung, diesem Talent des Stimmenhörens, ist er ein Außenseiter. Er kann seine Erfahrungen nur mit wenigen und nur äußerst selten teilen. Durch mein Zuhören hat er vielleicht erfahren, dass es womöglich öfter gelingt als er sich denkt. Ich höre keine Stimmen. Ich bin auch froh darum. Doch was sollte mich davon abhalten diesem Menschen Glauben zu schenken? Es gibt so vieles zwischen Himmel und Erde, was wir uns nicht erklären können, was jedoch Wert ist Beachtung und Aufmerksamkeit zu erhalten. Wenn es uns gelingt, so denke ich mir, diese feinstoffliche Welt zu erkennen und zu würdigen, und sei es auch nur ab und an, dann gelingt es, eine Verbindung herzustellen zu sich, zu den anderen und dem Leben gegenüber. Eine Verbindung, die heilsam sein kann.

2 Gedanken zu „Stimmen hören“

  1. Wunderbare Szenen einer Zugfahrt. „Kontaktschuld“ – diesen Begriff kennen einige meiner amerikanischen Freunde neuerdings auch. Sie sind zwangsläufig in beruflichem Kontakt mit Trump-Wählern und Musk-Enthusiasten, persönlich aber meilenweit entfernt von der kruden Ideologie dieser Weltverschlechterer. Mir wird immer häufiger klar: Man tut Millionen von Amerikanern unrecht, wenn man sie alle über einen Kamm schert. Danke für diesen Beitrag. Er hat etwas in mir bewegt, das ich bisher nicht so richtig benennen konnte. Jetzt weiß ich, wie dieses Phänomen heißt: Kontaktschuld.

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