Koinzidenz

Als ich heute Nacht aufwachte, da hatte mich eine Türklingel aus dem Schlaf gerissen. Ich wusste sofort, dass es nicht unsere war. Sie gehört mit ihrem Ding-Dong in eine vergangene Zeit. Dennoch war sie laut genug, mich aufzuwecken. Das Haus mit der Eingangstür aus gerahmtem Glas steht in einem Dorf am Rande des Südschwarzwalds. Wir bezogen es Ende der sechziger Jahre. Zu Beginn noch mit der Oma, sie bewohnte das ausgebaute Kellergeschoss. Hinter der Eingangstür lagen der Flur, eine Gästetoilette, Ess- und Wohnzimmer sowie die Küche. Oben waren die Zimmer der Kinder und das Schlafzimmer der Eltern. Wenn es klingelte, spitzten alle die Ohren. Wer wird aufmachen? Geht die Mutter an die Tür oder hat sie gerade alle Hände voll zu tun? Das Ding-Dong konnte ein Paketbote sein, der Briefträger mit einem Einschreiben, die Nachbarin oder der Freund eines der Kinder.

Heute Nacht konnte ich nicht herausfinden, wer geklingelt hatte. Ich erinnerte mich auch nicht an den Traum, der das Klingeln auslöste. Da ich wach war, griff ich zu meinem eBook-Reader und suchte mir unter den schon gelesenen Büchern eines aus. Beim Anklicken öffnete sich die Stelle, wo ich zuletzt gelesen hatte. Es war ein neues Kapitel und begann mit „‚Ich kann Auschwitz nicht noch einmal besichtigen‘, sagte Basia, eine junge Polin. Sie wolle im Flur auf einer Bank sitzen und warten.“ Am vergangenen Samstag befand ich mich im großen Saal der evangelischen Zions Gemeinde bei uns im Viertel. Hier werden Theaterstücke aufgeführt oder Filme gezeigt. Er eignet sich auch für Treffen größerer Gruppen. Fast sechzig Menschen saßen im großen Rund beieinander. So einen großen Kreis von Menschen habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Von den Anwesenden waren über die Hälfte junge Menschen im Alter von vierzehn bis 25 Jahren. Unter uns Alten war eine Person mit dreiundsiebzig Jahren.

Wir kamen zusammen, weil wir uns eingeschrieben hatten für eine Fahrt nach Krakau und den Besuch des Vernichtungslagers Auschwitz. Das Treffen galt dem ersten Kennenlernen und organisatorischen Fragen. Reihum durfte jeder/jede die Beweggründe nennen, die dazu führten, sich anzumelden. Am besten gefiel mir die Aussage eines fünfzehnjährigen, der halb sitzend halb liegend seinen Stuhl bewohnte: „Meine Eltern haben gesagt, ich muss mit.“ Diese saßen neben ihm und konnten seine Aussage bestätigen. Es waren auch andere Eltern anwesend, manche waren von ihren jugendlichen Kindern gefragt worden, ob sie mitkommen. Die Fahrt wird an Pfingsten stattfinden. Mit zehn Stunden Fahrtzeit sei zu rechnen. Da sah ich mich schon sitzen in einem Reisebus mit all den anderen und fragte mich, ob es wohl auszuhalten wäre die lange Zeit über. Welche Auswirkungen der Besuch der Gedenkstätte auf mich haben wird, darüber mache ich mir bisher keine Gedanken. Noch nicht.

In der Geschichte von Fleur Jaeggy durchwandert die Protagonistin die noch erhaltenen Baracken, betrachtet die ausgestellten Haare, Prothesen, Schuhe und die beschrifteten Koffer mit den Adressen derer, die glaubten auf der Durchreise zu sein. Als sie zurückkommt und gemeinsam mit Basia das Lager verlässt, hört sie Basia sagen, sie will keine Gesichter mehr sehen. Es ist genug. Jaeggy beendet ihre Erzählung mit dem Satz „Wenn du mehr wissen willst, dann geh und werde du – sagen ihre geschlossenen Augen –, werde du das Opfer.“ So weit werde ich mich nicht einlassen, denke ich. Es wird schon schlimm genug sein, die unzähligen Schicksale in den Blick zu nehmen, die daran erinnern, wozu wir Menschen in der Lage sind.

2 Gedanken zu „Koinzidenz“

  1. Wie immer beschreibst du deine Stimmung sehr einfühlsam, fast schon beklemmend. Ich bin sicher, dass du auf der Fahrt auch Gespräche führen wirst, über die du dann hoffentlich in deiner dir eigenen Art berichten wirst. Danke, dass du uns daran teilnehmen lässt.

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