Heimat

In seinem aktuellen Blogbeitrag macht Herbert aufmerksam auf seinen Bericht in der Schwäbischen Zeitung. Er outet sich dort als „gemogelten Biberacher“, weil er ja in einem Dorf am Rande aufgewachsen war. Dieses Dorf ist es, das uns verbindet: Ummendorf. Es ist einer der vielen Orte, die ich als Kind, als Jugendlicher und als Erwachsener mal mehr mal weniger lang bewohnte. In Ummendorf war dies genau ein Jahr: 1965. Das Haus, worin sich unsere Mietwohnung befand, gehörte Herberts Vater, dem Malermeister Bopp. Herbert erzählt in seinem Bericht für die Schwäbische, dass er täglich auf die lokale Seite schaut und sich deren Berichte durchliest. Das, obwohl er seit 45 Jahren in Kanada lebt. Es scheint doch etwas dran zu sein an der Aussage „Heimat entsteht in der Fremde“.

Meine Kindheitsorte verteilen sich im Norden und Süden Deutschlands. Dort, wo ich auf die Welt kam, war ich nicht zuhause. Der Ort Marktredwitz war der Arbeitsort meines Vaters, meine schwangere Mutter kam aus Bremen, um ihn zu besuchen. Die Zwillinge wollten partout in dieser oberfränkischen Kleinstadt das Licht der Welt erblicken. Zurück in Bremen ging es anschließend für vier Jahre nach Emmendingen, im Südwesten Deutschlands. Von dort nach Ummendorf, um ein Jahr später am Hochrhein, in Tiengen, zu landen. Letztlich fanden wir ein Haus in einem Dorf namens Weilheim, am Rande des Schwarzwaldes, wo ich mit einer Dauer von zehn Jahren am längsten zuhause war. Aber nun, wo ist meine Heimat? In der vierten Grundschulklasse wurden wir in einem Aufsatzthema danach gefragt. Ich wusste keine Antwort. Wenn mich jemand fragt, wo kommst du her, weiß ich keine Antwort. Ich beneidete meine Klassenkameraden, die überzeugt und sicher antworten konnten, aus Stuttgart, Frankfurt oder einfach nur aus Biberach. Wenn jemand nicht wusste, wo diese Orte zu finden waren, war es schnell erklärt. Aber Marktredwitz?

Selbst die digitalen Nomaden, die Dank Internet von überall in der Welt ihrer Arbeit nachgehen können, kommen irgendwann zurück zu den Orten, wo sie geboren wurden, ihre Kindheit und Jugend verbrachten. In einem Lied der Schweizer Band Plüsch wird das Heimweh besungen. Der Sänger hat Sehnsucht nach den Bergen, der Schoggi und dem Wein. Herbert beobachtet via Webcam Menschen auf dem Biberacher Marktplatz und hofft, jemanden darauf zu erkennen. Das gelingt nicht, doch seine alten Freunde halten ihn auf dem Laufenden. Auch die Todesanzeigen in der Schwäbischen Zeitung. Das kenne ich von einem alten Schulkameraden, der seit vielen Jahren in Südfrankreich lebt. Er studiert die digitale Trauerseite des Südkuriers, des Heimatblatts. Vor einiger Zeit schickte er mir eine Anzeige, weil er annahm, den Verstorbenen müsste ich kennen. Ich kannte ihn, hätte jedoch nie nach ihm gesucht. Plötzlich war ich wieder verbunden mit einem Ort, einer Zeit, Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Jahre. Ein Heimatgefühl?

Diejenigen, die in die Welt reisen, trennt von ihren Heimatorten nicht nur die Erinnerung an die Berge, die Felder und Ortschaften. Es sind auch die gemeinsamen Erzählungen, die nicht möglich sind draußen in der Welt. Wenn Herbert von seinen Erlebnissen auf dem Biberacher Schützenfest erzählt, wer kann diese teilen in Montréal? Treffe ich in der Fremde einen Menschen, dessen Sprache nach Süddeutschland klingt, frage ich, woher er kommt. Göppingen, sagte mir neulich mein Arzt, und schon befanden wir uns in einem sehr persönlichen Gespräch über Ort, Dialekte und Erinnerungen. Wenn ich auch nicht in Göppingen gewohnt habe, so konnte ich doch erzählen vom Daimler, vom Bosch, den großen Arbeitgebern rund um Stuttgart. Meine Kursteilnehmer kamen von dort. Ist es nicht der Ort, der verbindet, dann die Region oder der Klang der Sprache. Auch mir geht das Herz auf, wenn ich im Norden jemanden alemannisch sprechen höre. Wo kommsch du her? höre ich mich fragen, ganz ungewohnt aber vertraut im alemannischen Dialekt. Ob dort meine Heimat ist?

Edgar Reiz hat in seinem 11-teiligen Film „Heimat“ die Geschichte Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert erzählt. Die fiktive Gemeinde Schabbach ist mir heute noch in Erinnerung, besonders der Dialekt dieser Bewohner des Dorfes im Hunsrück. Als die Sendung im Fernsehen lief, schauten wir jede Folge, keine durfte verpasst werden. Auch hier verließen junge Menschen ihre Heimat, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Andere blieben. Wie auch mein Freund Norbert, der heute in der Straße sein eigenes Haus bewohnt, in der er aufwuchs. Dort, wo wir zusammen Roller fuhren, Fahrrad fuhren, Mofa fuhren. Dort, wo wir unsere ersten Kleinwagen parkten. Norbert rief mich nach über 50 Jahren an, er hatte sich an mich erinnert, wollte wissen wie es mir geht. Unser Austausch war kurz und intensiv und wir versprachen uns den baldigen Besuch. Als ich das Telefon zurücklegte in die Ladeschale, musste ich weinen.

2 Gedanken zu „Heimat“

  1. Hallo Achim. Auch ich teile deine Gedankengänge in Bezug auf Heimat. Ich erinnere mich an ein Aufsatzthema in der 3. Klasse in Ummendorf. Es lautete: Meine Heimat! Ich schrieb nur einen Satz: Ich habe keine Heimat! Mutti musste damals in die Schule kommen und mit Frl. Rapp ein Gespräch führen.
    Liebe Grüße
    Deine Schwester Jutta

  2. Verdrehte Welt: Wer hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen aufgewachsen ist wie ich, sehnt sich nach Umzug und Wechsel in die Großstadt. Wie habe ich meine Klassenkameradinnen und -kameraden beneidet, die Ummendorf verlassen durften! Du wärst auch einer gewesen, wenn wir uns damals in der Schule kennengelernt hätten. Es gab einen Jungen in der Saarstraße, der plötzlich verkündete, er ziehe mit seiner Familie nach Fehmarn. Im Diercke-Weltatlas stellte ich fest, dass das ja eine Insel war. Meine Sehnsucht nach Meer und kreischenden Möwen war geweckt. Kaum hatte ich Fehmarn als meinen Sehnsuchtsort ausgemacht, überbrachte unsere Lehrerin, Fräulein Rapp, der Klasse die Nachricht, eine Schulkameradin sei nach Australien ausgewandert, und man wolle doch gemeinsam für sie beten, damit sie dort sicher ankomme. Das war nun wirklich nicht mehr zu toppen – meine Sehnsucht nach fernen Plätzen kannte keine Grenzen mehr. Ob der Junge aus Fehmarn und das Mädchen aus Australien wohl mit dafür verantwortlich sind, dass ich in Kanada gelandet bin? Wer weiß … Danke, dass du das Thema aufgegriffen hast, lieber Achim. Die Lektüre regt zum Nachdenken an. Mein Fazit: Meistens hat man doch irgendwie, irgendwo alles richtig, zumindest aber passend gemacht.

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