Die Information erhielt ich per Mail. Ein Newsletter, den ich noch nicht abbestellt hatte, machte mich darauf aufmerksam. Eine Autorin namens Mina Bäuerlein würde aus ihrem Buch vorlesen. Jetzt ist es nicht so, dass ich auf jede angekündigte Lesung reagiere. Manchmal sind gerade die Lesungen der Autorinnen oder Autoren nicht besonders gut. Ich erinnere mich an eine Lesung von Martin Walser aus seinem Roman „Jenseits der Liebe“. Der Saal war voll, es war selten, dass so ein bekannter Autor zu besichtigen und zu hören war. Kultur gab es nicht oft in jener Kleinstadt am Rande des Südschwarzwaldes, also waren viele Menschen gekommen, um ihren Autor zu sehen und zu hören. Ich saß irgendwo am Rande an der Wand und bin eingeschlafen. Heute kann ich nicht mehr erinnern, um was es ging aber mir reichte es für einen tiefen Schlaf. Wobei, vielleicht hat er ja besonders gut vorgetragen und es lag am Inhalt, der mich schläfrig werden ließ. Ich weiß es nicht.
Jetzt also eine siebenundvierzig Jahre alte Autorin, die auszog, das Leben zu küssen. So sagt es der Untertitel ihres Buches. Als Titel wählte sie „Die Rückwärtspilgerin“, weil sie einen Teil des Jakobsweges entgegengesetzt abwanderte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Dennoch musste ich unbedingt den Weg nach Hannover auf mich nehmen, um sie zu hören. Sogar Kerstin ließ sich nicht lange bitten und kam mit. Es gibt viele Menschen, die den Jakobsweg gelaufen sind aus vielerlei Gründen. Nicht alle waren auf die Idee gekommen, ein Buch darüber zu schreiben. Hape Kerkeling fällt mir ein mit seinem „Ich bin dann mal weg“. Oder jener Engländer, der den Weg mit einem Esel unterwegs war und sein Werk betitelte mit „Zwei Esel auf dem Jakobsweg“. Alle liefen sie Richtung Santiago de Campostella. Ach, da fällt mir ein, auch Herbert aus Montreal lief den Weg gemeinsam mit seiner Frau Lore. 760 km 878 km* sind sie unterwegs gewesen von Pamplona nach Santiago de Compostela. Natürlich hat er darüber berichtet.
Mina Bäuerlein verkaufte all ihr Hab und Gut, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, kündigte ihren Job als Köchin in einem Hospiz und lief vom Ammersee Richtung Ostsee. Also einen Teil des Jakobsweges rückwärts. Sie entschied sich für den Pilgerweg, weil es dort günstige Übernachtungsmöglichkeiten gab. Die Lesung fand in Hannover statt im Garten des Hospiz Luise. Wir saßen mit 12 anderen Menschen unter schattigen Bäumen und lauschten den Erzählungen von Frau Bäuerlein. Sie kann sehr erfrischend erzählen und es gelang ihr, uns in ihre Abenteuer einzubeziehen. Man könne in ihrem Buch auch erfahren, welche Dinge besonders leicht sind, um sie im Rucksack mit sich zu tragen. Wer sich also zu solch einem existenziellen Schritt entscheiden sollte, findet hier manch hilfreichen Hinweis.
Als Mitarbeiterin im Hospiz war sie daran gewöhnt, die ungewöhnlichsten Lebensgeschichten von Sterbenden zu hören. Sie wusste, dass es die Begegnungen mit anderen Menschen sind, die am Ende erzählenswert und in Erinnerung bleiben. Auf ihrem Weg begegneten ihr sehr unterschiedliche Menschen mit je eigenen Geschichten. Einige halfen ihr, wenn sie unterwegs Unterkunft brauchte oder es ihr am Geld für Essen mangelte. Sie hatte sich ja ganz bewusst der Mittellosigkeit hingegeben. Was mich bei solchen Erzählungen immer wieder fasziniert und neugierig macht, ist, dass es funktioniert.
Eine innere Stimme macht mich auf die vielen Obdachlosen hier in Bremen aufmerksam und deren prekäre Situation. Es funktioniert eben nicht immer und nicht bei jedem oder jeder. Vielleicht braucht es ein entsprechendes „Mindset“, ein Gottvertrauen, um auf einem Weg ins Unbekannte Unterstützung zu erhalten von fremden Menschen? Dieses Gottvertrauen scheint die Autorin zu besitzen. Sie bezeichnet sich als evangelische Buddhistin und kommt immer wieder darauf zu sprechen, dass sie darauf vertraut, dass ihre Engel ihr zu Hilfe kämen. Offensichtlich hat sie diese Erfahrung mehrfach machen können auf ihrer Reise. Ich vermute, dass ich mit meinem oftmals auftretenden Misstrauen anderen Menschen gegenüber nur üble Erfahrungen machen würde. Wie heißt es doch so schön? Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus.
Das Reiterbild von Ernst August steht vor dem Bahnhof in Hannover. Es ist dem ehemaligen Landesherrn gewidmet. Wer sich in Hannover mit anderen treffen möchte, der trifft sich „unterm Schwanz“. Die Hannoveraner wissen dann, was damit gemeint ist.
* Herbert machte mich in seinem Kommentar darauf aufmerksam …
Zum frugalen Leben auf dem Jakobsweg: Ja, das ist absolut möglich – solange man sich mit Hostels und einfachen Pilgermenüs begnügt und nicht jeden Abend beim Sternekoch einkehrt. Für uns war es der kostengünstigste „Urlaub“, den wir je gemacht haben. Wir haben Menschen getroffen, die den Camino genau aus diesem Grund immer wieder laufen. Ein 80jähriger Däne erzählte uns, dass er bereits zum zehnten Mal unterwegs sei – „mehr sehen für weniger Geld geht nicht“, meinte er. Recht hat er.
Danke für die Erwähnung meines Blogs. Kleine Korrektur: Wir sind in 41 Tagen nicht 760, sondern 878 Kilometer gewandert.