Die Liste

In einem Film von Carl Reiner aus dem Jahr 1982 findet Steve Martin in der Rolle des Detektivs eine Liste mit Namen. Eigentlich findet er zwei Listen. Die eine ist überschrieben mit der Abkürzung F.O.C., die andere mit E.O.C. Auf die Frage seiner attraktiven Auftraggeberin, was es mit den Abkürzungen auf sich habe, hatte er sofort eine Antwort. „Friends of Carlotta“ und „Enemies of Carlotta“. Detektive, besonders jene aus den Anfangszeiten der Detektivromane, konnten dies. Sie wussten Bescheid. Ich werde hier nicht den ganzen Film wiedergeben, der den vielsagenden englischen Titel trägt „Dead Men Don’t Wear Plaid“. Wie so oft, gibt der ins Deutsche übersetzte Titel nicht den Witz wieder, der im englischen verborgen ist: Tote tragen keine Karos. Nun ja.

Mir geht es um die Listen. Als großer Fan von Ratgeberliteratur – für jedes Wehwehchen ein Buch – kam mir heute Morgen Rolf Dobelli in den Sinn. Er hat eine ganze Menge an Ratgebern geschrieben, deren Titel beginnen mit „Die Kunst des …“. Sie sind kompakt, auch im Format, und in ihrer Direktheit besonders anziehend. Mich faszinieren Menschen, die komplexe Zusammenhänge auf einfache Nenner reduzieren und Handlungsanweisungen daraus ableiten. So beschreibt er im Bändchen „Die Kunst des guten Lebens“ anhand von 52 Beispielen die Stolperfallen, die dem Durchschnittsmenschen das Leben erschweren. All das, was seiner Meinung nach ursächlich ist für das unglückliche Leben von Otto und Maria Normalverbraucher. So gibt es ein Kapitel „Lebensgeschichten sind Lügengeschichten“, worin er aufzeigt, dass wir uns rückblickend unser Leben mehr oder weniger schön reden. Wir erinnern uns so, dass die aufgereihten Erinnerungen konsistent sind, sie passen einfach. Ohne Widersprüche kam eines zum anderen, A führte zu B und danach kam C. Das lässt unser Leben im Rückblick als planbar erscheinen, planbarer als es tatsächlich war.

Viele seiner Anregungen regen mich tatsächlich an, meine Verhaltensweisen zu überdenken. Viele sind in ihrer Beschreibung so verständlich und logisch, dass ich mich beim Lesen frage, warum mache ich dies nicht auch? Und sei es nur, um auszuprobieren, ob es funktioniert. So weist er darauf hin, dass es doch Menschen gibt, die einem im Laufe des Jahres begegnen und die einem nicht gut tun. Dazu zählen solche, die in ihrer ausufernden Erzählung keinen Platz für Fragen lassen oder sich überhaupt nicht interessieren für ihre Zuhörer. Sie erzählen gerne, sprudeln von Satz zu Satz, von Episode zu Episode, meist aus dem eigenen Leben und, wenn fast alles erzählt ist, fangen sie von vorne an. Für die Zuhörenden mag dies anfangs noch interessant und abwechslungsreich erscheinen, ab der zweiten Wiederholung wird es jedoch anstrengend. Andere Menschen fallen dadurch auf, dass sie in allem anderer Meinung sind und nur das Schlechte im Menschen sehen. Es gibt Zeitgenossen, denen kann ich aus dem Weg gehen. Andere ertrage ich kurzzeitig und finde Wege, mich schnell wieder aus dem Staub zu machen.

Dobelli schlägt vor, man möge sich am Ende des Jahres hinsetzen und eine Liste erstellen all jener Menschen, die einem begegnet sind das Jahr über. Welche davon tun mir gut (friends), welche nicht (enemies). Wenn die Liste erstellt ist, wird sie immer wieder hervorgeholt, um sich zu vergewissern, mit welchen Mitmenschen der Umgang gepflegt wird und um wen man einen großen Bogen machen sollte. Alles, um des eigenen Seelenfriedens Willen. Gut, dachte ich mir, das sollte ich auch mal ausprobieren. Ich blätterte weiter im klugen Ratgeber und nachdem ich die nächsten tollen Ratschläge gelesen hatte, geriet mein Vorhaben in Vergessenheit. Für dieses Phänomen gibt es gewiss auch einen Ratschlag im Buch und ich sollte schleunigst nachschauen, wo ich ihn finde. Heute morgen erreichte mich eine Mail eines Menschen, dessen Kontakt ich seit Jahren gemieden hatte. Ohne den Ratschlag zur Liste wahrgenommen zu haben, verhielt ich mich danach. Ich hatte den Kontakt gemieden, weil dieser Mensch mir nicht gut tat.

Nun meldet er sich und fragt, wie es mir geht und ob wir unseren Kontakt nicht wieder aufnehmen wollten. Nach Dobelli sollte ich konsequent sein und den Kontakt nicht wieder aufnehmen. Ungeachtet dessen, ob sich dieser Mensch mittlerweile weiterentwickelt hat. In seinem Kapitel „Das Gelübde“ führt er auf, dass es weniger Energie kostet ein Vorhaben durchzusetzen als flexibel zu sein. Flexibilität, so schreibt er, mache müde und unglücklich und lenke ab von den eigentlichen Zielen. Als mir mein Vater schrieb, er wolle keinen Kontakt mehr zu mir haben, da war ich 38 Jahre alt. Auf meinen Versuch einer Annäherung, sieben Jahre später, schrieb er „Ich bin seelisch und körperlich nicht mehr belastbar. Belassen wir es also für unsere Beziehung beim ’status quo‘. Du bist ja auch sieben Jahre lang damit zurecht gekommen.“ Hatte er den Dobelli gelesen? Mit gefiel sein Brief nicht, ich hätte gerne miterlebt, wie er sein Altern meistert und sein Sterben. Heute hole ich dies nach, indem ich fremde Menschen beim Sterben begleite.


Abbildung von Alex Barcley auf Pixabay

2 Gedanken zu „Die Liste“

  1. Ich finde deine Gedanken sehr nachvollziehbar, und die Idee einer solchen Liste hat sicher ihren praktischen Nutzen. Sie kann helfen, bewusster mit den eigenen sozialen Kontakten umzugehen und sich vor negativen Einflüssen zu schützen. Allerdings frage ich mich, ob sie nicht auch zu einem gewissen Schubladendenken führt. Menschen verändern sich, und indem wir sie kategorisieren, nehmen wir uns vielleicht die Chance, sie neu zu erleben. Du schreibst ja selbst: ‚Nach Dobelli sollte ich konsequent sein und den Kontakt nicht wieder aufnehmen. Ungeachtet dessen, ob sich dieser Mensch mittlerweile weiterentwickelt hat.‘
    Vielleicht ist es sinnvoll, nicht nur einmal im Jahr eine Bestandsaufnahme zu machen, sondern immer wieder zu hinterfragen, ob eine frühere Einschätzung noch gilt. Manchmal überrascht es ja, wenn sich alte Kontakte in einem neuen Licht zeigen.
    Ich habe gelernt, Freundschaften selektiv zu bewerten: Ein „Freund“ für den Sport, einer für das gemeinsame Rockkonzert, ein anderer für Restaurant- und Barbesuche. Den Rundumfreund findet man speziell hier in Nordamerika nur selten. Außerdem habe ich festgestellt, dass organisch gewachsene Freundschaften aus der Jugend im Alter nicht nachholbar und auch nicht zu ersetzen sind. Damit muss ich leben. Trotzdem ein interessanter Ansatz – und ein spannender Beitrag. Danke dafür.

    1. Der „Rundumfreund“ gefällt mir. Ja, es gibt ihn nur selten und womöglich hast du Recht, wenn du von den organisch gewachsenen Freundschaften sprichst, die ihn ermöglichen. Danke für deinen Kommentar!

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