Balkonien

Es ist wieder möglich, jetzt, da das Wetter mitmacht. Selbst hier im Norden wird es wärmer. Wir sitzen zum Frühstück auf unserem Balkon. Abgeschirmt oder beschirmt genießen wir die frische Luft und die frühmorgendliche Wärme. Ich könnte mal wieder einen Blogbeitrag schreiben, hatte ich eben noch zu Kerstin gesagt. Und hinzugefügt, aber mir fällt ja nichts ein außer Tod und Sterben. Das ist natürlich übertrieben. Gestern hatten wir mit anderen Sterbebegleitern zusammengesessen in unserer monatlichen Supervision. Dort geht es sehr lebendig zu beim Reden über Tod und Sterben. Wir lachen viel und irgendwie hatte ich den Eindruck, es ist doch toll, wenn auf diese Art das Sterben in unser Leben integriert wird. Wenigstens das Sprechen über das Sterben. Mit viel Humor und Fröhlichkeit. Mit viel Nachdenklichkeit und Mitgefühl für die Erzählungen der Anderen.

Mir war das aufgefallen, weil ich mich erinnerte an das Wochenende mit meinen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern. Wir hatten den Freitag und Samstag wieder mal am Biggesee verbracht, in der dortigen Akademie. Da bleibt es nicht aus, dass neben den Lerninhalten auch ganz private Themen angesprochen werden bei den gemeinsamen Mahlzeiten und in den Seminarpausen. Oft geht es um die Kinder, wenn welche da sind, um die Vorkommnisse im Betrieb, um Kurioses aus der Freizeit und Urlaubszeit. Oder auch um Fußball. Gerade merke ich, dass letzteres viel weniger vorkommt als erwartbar wäre. Zwei meiner Kursteilnehmer sind auch als Fußballschiedsrichter unterwegs. Aber vielleicht nehmen gerade diese das Geschehen auf dem Platz weniger wichtig als es viele der Fußballfans tun. Mir war beim Frühstücken am Sonntag eingefallen, dass ich meinen Tischnachbarn fragen könnte, ob er einer Trauergruppe beigetreten sei. Ich wusste, dass erst vor kurzem seine Mutter gestorben war. Als er verneinte, erzählte ich von der anstehenden Messe „Tod und Leben“ hier in Bremen und dass ich eingeteilt sei für den Messestand.

Da war es wieder das Thema. Im Nachhinein erst fiel mir auf, dass ich es eingebracht hatte in einer geselligen Runde und dazu noch während des Frühstücks. Bei uns zuhause gab es ein paar Tabuthemen, von denen alle beim gemeinsamen Essen Abstand hielten: Politik, Religion, Tod und Sterben und Sexualität. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, das alle beherzigten. Heute frage ich mich, ob wir überhaupt über irgendetwas gesprochen haben. Wie war es in der Schule? Was gibt es zu essen? Was machen wir am Wochenende? Wann kommt der Vater von seiner Geschäftsreise zurück? So etwa stelle ich es mir vor. Die Frage nach der Schule setzte sich später auch in meiner eigenen Familie fort und ich bedauerte meine Kinder. Irgendwann konnten sie es wohl nicht mehr hören. Ob wir über die anderen Themen gesprochen haben am Tisch, weiß ich nicht. Wir haben jedoch sehr viel über das gesprochen, was uns berührte, was uns emotional und gedanklich umtrieb.

Einmal kam es vor, dass mein Vater von einem Unfall berichtete. Er war als erster an der Unfallstelle und musste als Zeuge eine Aussage machen. Während seiner Erzählung kamen ihm die Tränen. Das Unfallopfer war noch an der Unfallstelle verstorben. Da erlebte ich meinen Vater zum ersten Mal als mitempfindenden Menschen. Der sonst so zurückhaltende und eher unnahbare Mann hatte Gefühle gezeigt. Manchmal muss erst jemand sterben, damit so etwas passiert. Wir hatten in unserer Supervision über den letzten Wunsch gesprochen, der doch eigentlich ein letzter Wille ist. Ganz besonders nah ging mir die Erzählung von einer Witwe, die diesem Wunsch nicht nachgekommen war. Der im Sterben liegende Ehemann hatte sich eine fröhliche Beerdigung gewünscht mit bunten Gästen, Musik und Tanz. Er verstarb sehr schnell und aus dem Wunsch wurde nichts. Es gab die üblichen Trauerkleider, die langatmigen Reden und die üblichen weißen Lilien. Ich wäre als Poltergeist aus dem Grab gestiegen und hätte meinen Groll über die Hinterbliebenen ausgelassen, wäre mir dies passiert.

Ein Gedanke zu „Balkonien“

  1. Ich werde ja erwähnt in diesem letzten Blogbeitrag, und ich war gestern auch in der Supervisionsrunde dabei. Ich erinnere mich, dass meine Sitznachbarin beim Aufstehen am Ende zu mir sagte: Ach, es sei doch wieder mal leicht und eher witzig gewesen, jedenfalls hätte sie ab und an lachen müssen und dass es doch auch beim Sterben um das Leben ginge.

    Hmm, sagte ich, nee, ich hätte nicht gelacht, aber vielleicht sei ich auch gerade insgesamt nicht heiter und voller Leichtigkeit.
    Ja, das bin ich tatsächlich nicht, „schwerwiegende“ Problematiken begegnen mir und beschäftigen mich. Und im Moment denke ich, dass in jedem Augenblick und bei jedem Thema der individuelle Kontext oder gar die gefühlsmäßige Situation, in der sich der Mensch gerade befindet, weitaus mehr entscheidend ist für den Umgang mit etwas als man sich in der Regel klarmacht.
    Bei der Supervision gestern habe ich nicht lachen können, bei der vor vier Wochen, da habe ich sogar haltlos kichern müssen.

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