Gestern befand ich mich mal wieder in einem ZOOM Meeting. Mit fünf anderen Personen konnte ich mich im Rahmen eines „Shared Reading“ austauschen. Jemand hatte einen Text ausgewählt, den wir gemeinsam lasen. Eine Person liest ein Stück weit und dann wird unterbrochen, damit alle ihre Eindrücke schildern können zu diesem Textteil. Anschließend liest jemand anderes weiter laut vor und am nächsten Haltepunkt teilen wir unsere Gedanken, Eindrücke, Phantasien und Erinnerungen zum Gelesenen.
In anderen Zusammenhängen nutze ich ZOOM, um mich mit anderen Menschen zum Dialog zu treffen. Auch hier geht es darum, die räumliche Trennung aufzuheben, sich zu begegnen, um gemeinsame Erfahrungen zu machen. Bei Shared Reading und im Dialogprozess ist es wichtig, einen schützenden Raum zu erleben, der das vertrauensvolle Sprechen möglich macht. Über sich zu sprechen in Anwesenheit von zum Teil fremden Menschen, das ist nicht immer leicht. Es wird jedoch mit jedem Mal leichter, wenn ich die Erfahrung machen darf, dass meine Sichtweise, meine Äußerung, mein mich zeigen nicht sanktioniert werden. Wenn ich einfach so sein darf wie ich mich zeige.
Diesen schützenden Raum erlebe ich sehr schnell, wenn ich mit Menschen physikalisch in solchen Treffen bin. Ich höre, sehe, spüre die Präsenz der Anderen. Aus den Augenwinkeln kann ich Bewegungen wahrnehmen, kann Reaktion erkennen, die durch Gesten und Mimik sichtbar werden. Die Menschen im „echten“ Zusammentreffen sind für mich vollständig, ihre Anwesenheit wird für mich spürbar. Ist jemand niedergeschlagen, dann kann ich dies an der Körperhaltung erkennen. Ist jemand energetisch aufgeladen und wach, dann ist auch dies zu sehen und zu spüren.
Am Bildschirm begegnen mir Talking Heads. Ich sehe die Anderen von der Brust aufwärts. Ich sehe Köpfe, Gesichter und manchmal sehe ich in Augen. Dies jedoch nur dann, wenn zur selben Zeit wie ich auch die andere Person in die Kamera schaut. Begegnungen auf Augenhöhe sind hier im eigentlichen Sinne selten. Wenn ich als Leseleitung agiere, dann muss ich die Reaktionen der Anwesenden im Auge behalten. Dies gelingt mir nur schwer, da doch so viele Bilder zu beobachten sind, die nur Briefmarkengröße haben. Hat sich jemand bewegt? Hat jemand das Gesicht verzogen? Möchte jemand etwas sagen? All dies ist für mich einfacher zu überblicken im gemeinsamen Zusammensein in physikalischen Räumen. Ich spüre dann mehr.
Beim Blick auf den Bildschirm fehlt mir diese Form der Wahrnehmung. Wenn sich jemand meldet, dann hebt er die Hand in die Kamera oder spricht seinen Wunsch ins Mikrofon. Wünsche nach Verlangsamung, nach einer Pause, müssen explizit kundgetan werden. Wenn jemand spricht, dann erlebe ich sehr häufig, dass es kurze Beiträge sind mit dem Versuch, in möglichst kurzer Zeit die eigenen Gedanken mitzuteilen. Das hat Vorteile, besonders in geschäftlichen Meetings. So bringen die Anwesenden ihre Gedanken und Meinungen auf den Punkt. Es wird auch weniger durcheinander gesprochen, da jeder merkt, wie anstrengend ein Treffen dadurch wird. So lässt sich dem mediengestützten Austausch auch was Positives abgewinnen: Die Menschen sprechen kurz und „gesittet“ miteinander.
In Begegnungen wie dem Shared Reading oder dem Dialogprozess, da geht es jedoch nicht allein darum, kurz und gesittet miteinander zu reden. Hier sollte Raum geboten werden, seine Gedanken beim Sprechen zu entwickeln. Wer dies einmal erleben durfte, kann feststellen wie sehr doch die Anwesenheit von (Ohren-)Zeugen dazu beiträgt, die oft flüchtigen eigenen Gedanken auf die Reihe zu bekommen. Worte reihen sich aneinander und bilden Satzreihen. Ganz im Sinne Heinrich von Kleist als „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen“. Dieses Einüben des unfertigen Sprechens im Prozess setzt voraus, dass die anderen Geduld zeigen. Dass es ihnen gelingt, die Zeit aufzubringen zuzuhören. Hier ist kein geschliffenes Ausformulieren, kein druckreifes Sprechen gefordert.
Dies gelingt mir oftmals auch in Dialogrunden nicht, wo doch Entschleunigung und großes Wohlwollen die besten Grundlagen dafür bieten. Vor der Kamera, dem Bildschirm und dem Mikrofon, gelingt es mir noch weniger. Ich fühle mich gedrängt, meine Aussagen präzise und durchdacht anzubieten. Erst recht, da ich nicht erkennen kann, wie die Anderen darauf reagieren. Mir fällt es nach vielen Jahren der Erfahrung mit Talking Heads noch immer schwer, ein vertrauensvolles Sprechen vom Du zum Du auch am Bildschirm umzusetzen. Und wie sagte Kerstin so schön, als wir am Frühstückstisch darüber sprachen: „Es zwingt dich doch keiner, du musst es nicht.“
Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen
Martin Buber: Der Mensch wird erst am Du zum Ich
Talking Heads: Stop Making Sense