Laßt uns das geplante Online-Wochenende in einem Seminarhaus durchführen, schlugen Teilnehmer meines Kurses vor. Ich war sofort einverstanden, die Veranstaltung in Präsenz stattfinden zu lassen. So konnte ich die Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen endlich einmal in „3-D und in Farbe“ kennenlernen. Einer der Teilnehmer organisierte für uns den Seminarraum und Zimmer in der Akademie am Biggesee. Er war dort schon oft gewesen mit seinen Auszubildenden. Am Ende waren sechs der neun Teilnehmer bereit, dorthin zu fahren. Die drei anderen konnten aus privaten Gründen nicht dabei sein.
Ich war noch nie in Attendorn, auch nicht am Biggesee. Andere Menschen machen dort Urlaub, so wurde mir berichtet. In Attendorn gibt es einige weltweit operierende Unternehmen aus der Stahl- und Automobilindustrie. Die Stadt hat Geld, bemerkte ich, als wir eine Stadterkundung durchführten. Es gibt ein Hallenbad, welche Stadt kann sich das heute noch leisten? Auf meinem Weg ins Sauerland ließ ich mich von einem Hörbuch in andere Welten entführen. In dem Buch von Sabine Bode mit dem Tiel „Geschwister im Gegenlicht“ geht es in Romanform um das Thema, das die Autorin schon in ihren vorherigen Büchern bewegt hat. Die Generation der Kriegskinder und Kriegsenkelkinder. Wie äußert sich das Trauma der Kriegseltern bei ihren Nachkommen? Was macht das mit unserem Empfinden oder unserer Empfindunglosigkeit in der Jetzt-Welt? Die Erzählung zog mich so sehr in das Erleben der Protagonistin, dass ich am Ende nicht mehr sagen konnte, wie ich auf den Parkplatz des Seminarhauses gelangte.
Dort angekommen, musste ich mich zurückrufen in das Vorhaben des Wochenendes. Ich hatte schon seit einer Woche den Workshop vorbereitet, hatte mich in die berufspädagogischen Themen eingearbeitet, Gruppenaufgaben und Texte erstellt. Jetzt also die Begegnung mit all den Menschen, die mir sonst nur am Bildschirm begegnet waren. Live! Es gab ein großes Hallo und freundliche Gesichter strahlten mir entgegen. Einer der drei Männer ist ein Hühne, mir fiel dies am Bildschirm nicht auf. Die anderen erscheinen mir zwar nicht fremd, doch irgendwie vollständiger. Als hätten sie plötzlich nicht nur Schultern und Kopf, sondern Arme, Beine und eine Ausstrahlung, die mehr transportiert als ihre Stimme allein es kann. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, neben den Workshopstunden auch die Essenszeiten, den Ausflug an den Biggesee, die Stadtführung in Attendorn. Und die Abende im Kaminzimmer waren voll von Erzählungen über die Welt der betrieblichen Ausbildung.
Auf dem Heimweg am Sonntag fuhr ich wieder drei Stunden lang durch die Welt der Sabine Bode. Ich konnte erfahren unter welch schrecklichen, gewalttätigen Eltern ihre Protagonistin leiden musste und wie es ihr gelingt, die Schrecknisse ihrer Kindheit gemeinsam mit dem Bruder aufzuarbeiten. Während des Fahrens war ich sowohl an der Ostsee als auch in Berlin und in einem kleinen Städtchen in Brandenburg. Ich begegnete wohlwollenden Menschen mit sehr eindrücklichen Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus, des DDR-Sozialismus und der Gründungszeit der BRD. Zuhause angekommen, trug ich diese Geschichte mit mir und fremdelte als mir Kerstin die Tür aufmachte. Ich war nicht richtig anwesend. Dort die Welt der beruflichen Bildung mit einer Fülle an Berichten aus der betrieblichen Ausbildung, da die Welt der Kriegskinder und -enkelkinder. Hier mein Zuhause in Bremen mit Kerstin. Parallelwelten, dachte ich.
Es war zu viel für mich. Nachdem ich meine Sachen ausgepackt und verstaut hatte, machte ich es mir in meinem Sessel bequem und schlief ein. Nach zwei Stunden tiefem Schlaf war ich angekommen. Die vielen Eindrücke aus unterschiedlichen Welten waren verarbeitet, verräumt und losgelassen. Ich fühlte mich wieder als Teil des Hier und Jetzt. Offensichtlich brauche ich manchmal Zeit, meine Erlebnisse und Ereignisse sacken zu lassen. Besonders dann, wenn ich sie sehr intensiv erlebt habe. Als Rentner kann ich mir diese Zeit nehmen, doch was machen Menschen, die eingespannt sind im Hamsterrad der täglichen Pflichten? Wie gelingt es diesen, ihre Eindrücke zu verarbeiten, frage ich mich. Mir tut es gut, viel Zeit für mich zu haben und sei es nur, um mich wieder einzunorden in mein Hier und Jetzt.