Schreibwerkstatt II

So eine Schreibwerkstatt ist auch ein sozialer Event, da hat Herbert recht. Aber es lässt sich auch einiges ausprobieren und das Feedback zu den eigenen Texten führt zumindest bei mir dazu, dass ich es als Ermunterung mitnehme für das Schreiben. Und, für das Teilen. Eine Aufgabe ganz zu Beginn bestand darin, einen Text zu erstellen mit dem ersten Satz „Zunächst sah alles sehr vielversprechend aus“. Oder „Es war von Anfang an eine verfahrene Situation“. Der Satz sollte noch zweimal wiederholt werden im Text.


Verfahren

Es war von Anfang an eine verfahrene Situation. Im Gegensatz zu sonst hat er seinen Wecker nicht gehört. Als er erwacht und auf das Ziffernblatt sieht, ist es 10 Uhr. Eine Stunde zuvor hätte er aufstehen wollen. Scheiße, dachte er, verfickte Scheiße. Wie kann er das nur wettmachen? Bettdecke zur Seite schlagen, Füße raus aus dem Bett, aufrichten und losspurten ins Bad. Wie konnte er nur so blöd sein und sich auf den Wecker verlassen? Wie konnte er nur so blöd sein sich nur eine Stunde zu geben für seine Morgenroutine? Jetzt also im Schnelldurchgang Frischmachen, Haare bürsten, Zähne putzen, anziehen. Zwischendurch auf Toilette. Keinen Kaffee, kein Frühstück, keine Zeitungslektüre. Wo sind die Autoschlüssel? Wo ist sein Handy? Raus, raus, raus. Die Eingangstür fällt hinter ihm ins Schloss, er rennt die Treppe runter, nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Raus aus dem Haus, nach links die Straße runter, dort steht sein Auto vor der Bäckerei. Gestern hatte er es dort abgestellt. Das Auto steht nicht dort. 

Er hatte es gestern hier abgestellt. Gestern, nach dem Treffen mit Julia, in der Innenstadt. Vielleicht hätte er besser die Öffentlichen genommen oder ein Taxi. Aber nein, der Wagen sollte vor dem Haus stehen, zumindest in der Nähe. Doch hier, vor der Bäckerei, ist er nicht zu sehen. Vor der Bäckerei steht ein grüner Twingo. Seinen roten Golf sucht er vergebens. Die Straße runter, kein roter Golf, die Straße rauf auch nicht. Was tun? Bus? Taxi? Uber? Die Zeit läuft. Um 11 ist das Vorstellungsgespräch. Noch 40 Minuten, das müsste zu schaffen sein. Er gibt seine Position ein in der Uber-App. Eine Rückmeldung kündigt ihm den Wagen an in fünf Minuten. Sie wollen in die Humboldtstraße, sagt der freundliche Fahrer, als er sich anschnallt. Ja, zum Innovationszentrum, die ehemaligen Kasernen. Wie lange werden Sie brauchen? 15 Minuten, meint der Fahrer. Gut, legen Sie los! Es war von Anfang an eine verfahrene Situation. Julia machte ihn auf diese Stelle aufmerksam, sie meinte, er solle sich bewerben. Er wollte nicht. Eine so kleine Firma, hatte er entgegnet. Die sind doch kaum mehr als zwanzig Mann. Aber Julia blieb stur. Nun bewirb dich doch erst mal und schau dir den Laden an. Auf mich macht er einen recht seriösen Eindruck. Und überhaupt, absagen kannst du dann immer noch. Er wollte eigentlich gar keine Bewerbung abgeben, tat es dann doch. Vielleicht hatte Julia recht und es sind dort andere Entwicklungswege möglich als in seinem jetzigen Betrieb. Etwas jedoch nagte noch an ihm. Es war Julia, die ihm vorwarf, er wolle ständig höher hinauf und neige dazu, seine Fähigkeiten zu überschätzen. Sie redete wie seine Eltern, die auch immer nur kleine Brötchen gebacken hatten. Die von ihm verlangten, er solle nicht studieren, eine Berufsausbildung zum IT-Techniker täte es auch. Doch er hatte sich durchgesetzt, hatte sogar eine Halbtagsstelle gefunden, um sein Studium zu finanzieren. Schon während des Studiums setzte er um, was sie an der Uni lernten. In der kleinen IT-Firma, wo er mehr Zeit verbrachte als im Studium, sammelte er Erfolgserlebnisse und erfuhr Anerkennung. 

Nach Abschluss seines Studiums hätte er weiter dort arbeiten können, Vollzeit und mit höherem Gehalt. Sie wollten ihn behalten. Doch immer nur Programmieren, das war nicht sein Ding. Mit seinem Uni-Abschluss konnte er sich mehr vorstellen. Über fünfzig Bewerbungen hatte er geschrieben. Alles, was er erhielt, waren Absagen. Niemand wollte einen Anfänger als Führungskraft einstellen. Jetzt aber diese Firma. Die wollten ihn sehen, sie legten Wert auf seine Praxiserfahrung und trauten ihm zu, ein Team zu führen. So war es ihm am Telefon gesagt worden. Es müssten nur die beiden anderen Geschäftsführer zustimmen, das sei jedoch kein Problem, wenn es ihm gelingt, sich gut zu präsentieren. Dienstag, 11 Uhr. Noch 25 Minuten. Das ist zu schaffen. Der Uber-Fahrer fährt mit Navi. Er kennt sich offensichtlich nicht aus, kennt keine Abkürzungen. Vor ihnen leuchten Bremslichter auf, obwohl die Ampel grün zeigt. Was ist da los? Keinen Stau, bitte, nicht heute, nicht an diesem besonderen Tag.

Noch zwanzig Minuten. Was könnte er tun? Anrufen, doch wen? Er hat keine Nummer gespeichert, seine Notizen liegen in der Wohnung. Es war von Anfang an eine verfahrene Situation. Keine Kontaktdaten, keinen Ansprechpartner, in der Eile hatte er nicht daran gedacht. Jetzt kann er nur hoffen, dass sich der Stau auflöst, dass sie endlich weiterfahren, dass er ohne weitere Störungen zu seinem Termin kommt. Tatsächlich bewegen sich die Fahrzeuge vor ihnen. Allmählich fließt der Verkehr. Keinen weiteren Stau, keinen weiteren Stau, murmelt er vor sich hin. Ein Mantra, ein Gebet, eine kindliche Zauberformel. Keinen weiteren Stau. Es scheint zu funktionieren, da vorne ist das Gebäude zu sehen. Und vor dem Eingang gibt es einen freien Platz zum Aussteigen. Er zahlt mit der App und rennt los. Die Treppen zum Haupteingang hat er schnell geschafft. Die Orientierungstafel im Eingangsbereich sagt Stockwerk 2. Die Firma hat ihre Büroräume dort. Jetzt die Treppe hoch, den Raum finden, es sollte die 216 sein, daran erinnert er sich noch. Der 21.6. ist Julias Geburtstag. Es ist kurz vor 11. Den langen Gang entlang, die Zimmernummern lesend, hastet er weiter. Vor der Tür hält er inne, atmet noch einmal tief ein und drückt die Türklinke. Sie klemmt. Sie lässt sich nicht bewegen. Die Tür ist verschlossen. Was ist das? Falsches Stockwerk? Falsches Zimmer? Nein, das scheint alles zu stimmen. Noch einmal versucht er die Klinke zu drücken, nichts tut sich. Als er den Gang entlang schaut, sieht er einen älteren Mann. Er läuft ihm nach. Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, warum Zimmer 216 verschlossen ist? Ich habe dort meinen Termin, meinen Vorstellungstermin. Wann haben Sie den denn, fragt der ältere Herr. Heute, Dienstag, um 11:00 Uhr. Der Mann schaut ihn fast mitleidig an, zeigt auf seine digitale Uhr am Handgelenk, verweist auf das Datum und sagt, heute ist Mittwoch, Ihr Termin war gestern.