Es gibt Gewohnheiten, die lassen sich erst dann erkennen, wenn Besuch da ist. Wo sitzt ihr, werden wir gefragt, als wir um den gedeckten Frühstückstisch stehen. Das ist egal, antworten wir unisono und der Gast darf wählen, wo er oder sie gerne sitzen mag. Im Alltag ohne Gäste stimmt dies nicht, da haben wir unsere Lieblingsplätze. Ich sitze an der Längsseite des Tisches mit Blick in den Garten, Kerstin sitzt mal auf der Bank mir gegenüber, mal an der Stirnseite des Tisches, rechts von mir. Manchmal frage ich mich, wie der Blick über den Tisch unsere Gespräche beeinflusst. Im Winter sehe ich durchs Fenster über den Balkon hinweg die blattlosen Äste der Bäume, den grauen, bedeckten Himmel, die tristen Rückseiten der Häuser aus der Parallelstraße. Kerstin hingegen sieht in den Raum hinein, die bunten Teppiche, die rote Couch oder, wenn sie an der Stirnseite des Tisches sitzt, das riesige Kalenderblatt mit wunderschönen Landschaftsaufnahmen.
Lass uns den Seidenbaum zurückschneiden, schlug ich vor im letzten Winter. Ich saß an meinem Platz und sah die Äste des Baumes in unsere Wohnung wachsen. Der wird immer mächtiger, größer, höher, das geht so nicht weiter. Kerstin zögert, blickt aus dem Fenster und sagt, ja. Aber ich müsse mich kümmern um das Ausleihen der Leiter bei der Nachbarin. Und der anderen Nachbarin müsste ich mitteilen, was ich vorhabe, hängt doch einer der Äste in ihren Garten hinüber. Mein Vorsatz, hier einzuschreiten und dem Wildwuchs Einhalt zu gebieten, war schnell vergessen. Zwar hatte ich die Leiter besorgt und eine neue Astsäge, doch konnten wir uns nicht einig werden, wann wir den Rückschnitt umsetzen. Auch war nicht klar, wo ich die Säge ansetzen sollte. Aus dem Fenster betrachtet in Höhe der Balkonbrüstung. Als ich vor dem Baum stehe, denke ich, es müsste noch weiter unten passieren. Kerstin ist anderer Ansicht, sie meint, nur oben ein bisschen. Er solle nicht so ausladend sein.
Bei all dem erinnerte ich mich an eine ähnliche Situation in meiner Jugend. Neben unserer Haustür wuchs ein Strauch so mächtig, dass der Vater meinte, man müsse ihn zurückschneiden und ich möge dies übernehmen. Er fand diesen Strauch besonders schön, wenn er blühte im Frühjahr. Nun also sollte er weiter blühen, doch nicht den Weg ins Haus versperren. Ich kenne mich mit Gartenarbeiten überhaupt nicht aus, weiß nur wie ich eine Gartenschere bediene. Als ich mich an die Arbeit machte, sah der Strauch irgendwann aus wie ein gerupftes Huhn. Also schnitt ich weiter, konnte jedoch nichts am Aussehen verändern. Am Ende blieb ein kleiner Rest von Wurzelwerk und Zweigen übrig, der Busch versperrte den Eingang nicht mehr, jedoch war er nicht mehr vorhanden. Mein Vater erinnerte sich noch im hohen Alter an diesen Frevel und ich glaube, er hat es mir nie verziehen. Mit dieser Erinnerung im Gepäck fällt es mir schwer die Astsäge anzusetzen.
Jetzt, im Sommer, freuen wir uns über die Blütenpracht des Seidenbaumes und den Schatten, den er an sonnigen Tagen spendet. Als ich vorhin nach Informationen über ihn suchte, da erfuhr ich, dass ein zerriebenes Blatt hilft, wenn man mit Brennnesseln in Kontakt gekommen war. Auch soll die Rinde helfen gegen Würmer und bei Prellungen und Stauchungen. Ein nicht nur schönes und Schatten spendendes sondern auch hilfreiches Gewächs, das da in unserem Garten steht. Die Diskussion über seinen Rückschnitt ist auf den Winter vertagt.