Draußen ist es warm. Die Sonne scheint, mehr Menschen als sonst laufen ohne Jacke und in leichter Kleidung durch die Straßen. Auch auf den Spielplätzen ist jetzt mehr los als zu den kälteren Jahreszeiten. Timmi spielt seit einer Stunde im Sandkasten. Mit seinem Spielzeugbagger lädt er Sand in einen kleinen Eimer. Ist der Eimer voll, dann hebt er ihn hoch und schüttet den Sand neben sich, dort wo sich schon ein kleiner Sandhaufen gebildet hat. Danach beginnt er sein Spiel von vorn. Baggern, Sand in den Eimer füllen, Eimer ausleeren, sobald er voll ist. Timmi scheint zufrieden und vertieft in seinem Tun. Während dessen sitzt sein Vater etwas weiter entfernt auf einer Bank und scrollt durch seine Textnachrichten.
Andere Kinder spielen auf dem Klettergerüst, drehen sich auf einer Drehscheibe im Kreis oder haben selbst ein kleines Revier im Sand ergattert, wo sie graben, auftürmen, formen oder kleine Autos durch die Sandstraßen schieben. Timmi stört dies alles nicht, er lässt sich nicht ablenken. Dann kommt Thorsten mit seiner Mama. Thorsten greift nach seinem Eimerchen, seiner Schaufel und begibt sich ganz dicht dorthin, wo Timmi so selig spielt. Er nimmt Sand auf mit seiner Schaufel, füllt ihn in den Eimer und als er fertig ist, schüttet er alles auf den Haufen, den Timmi schon begonnen hatte. Nach einer Weile, Thorsten kippte weiterhin seinen Eimer auf Timmis Sandhaufen aus, da sagt Timmi: Ich will das nicht! Thorsten denkt nicht daran aufzuhören. Er leert seinen Sand weiter auf den von Timmi begonnen Haufen. Auf Timmis jetzt lauteren Hinweis, er soll aufhören damit, grinst Thorsten und schüttet den nächsten Eimer aus.
Timmi wird wütend. Er hat die ganze Zeit über friedlich gespielt, hatte seinen Sand von vorne zur Seite verlagert. Der Sandhaufen neben ihm gehörte zum Spiel, es war sein Haufen. Als Thorsten wieder einen vollen Eimer darauf ausleert, da dreht Timmi sich mit Schwung um und haut ihm seine Schaufel ins Gesicht. Thorsten schreit. Thorsten ruft „Mama“! Seine Mama kommt, sieht Thorsten heulen, wendet sich an Timmi und beschimpft ihn. Er habe ihren Thorsten brutal geschlagen. Das sei eine Unverschämtheit. Vom Geschrei aufmerksam geworden, eilt Timmis Papa herbei. Was denn los sei, will er wissen. Warum sie seinen Sohn anbrüllen würde? Dieser habe ohne Grund ihr Kind brutal ins Gesicht geschlagen. Mit der Schaufel. Wo denn da die Erziehung bliebe. Ob er nicht besser auf seinen Sohn acht geben könne. Sie ließe sich das nicht weiter gefallen, das bringe sie zur Anzeige. Der Streit eskaliert. Timmi habe Thorsten geschlagen. Was zuvor geschah, das interessiert jetzt nicht. Es interessiert auch später nicht. Dass jemand zu einer Gewalttat provoziert werden könnte, das fällt vielen Menschen nicht ein. Die Empörung, die Wut, das Beschuldigen des Täters, all das ist wichtiger als das Nachdenken darüber, wie es zum Vorfall kommen konnte. Oder darüber, wie sich solch ein Ereignis im Vorfeld vermeiden ließe.
Ähnlich ist es mit Konflikten, die unter Erwachsenen stattfinden. Wir nennen Sie abwechselnd Verteidigungsfall, Militäroperation, Bündnisfall, Angriffskrieg oder schlichtweg Krieg. Es interessiert nicht, warum es dazu kam. Wichtig ist, einen Gegner benennen zu können und auf ihn einzuschlagen, sich auf Seiten der Gerechten zu wähnen. Wer nach der Vorgeschichte fragt, wer überhaupt Fragen stellt, gerät heute schnell in Gefahr, dem Othering anheim zu fallen. Zum Anderen gemacht, ausgegrenzt, verachtet zu werden, ein Etikett angeheftet zu bekommen als Timmi-Versteher.
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