Liebe Marie

Manchmal heißt es auch „Liebes Mariechen und liebe Kinder“. Seit langer Zeit schon liegt eine schwarze Mappe in meinem Schrank. Es sind Briefe darin, die zwischen 1935 und 1945 geschrieben wurden. Nicht alle konnte ich bisher entziffern, denn sie sind in Sütterlin und mit Handschrift geschrieben. Einige sind über die Zeit hinweg vergilbt, die Tinte ist mit Wasser in Kontakt gekommen, die Worte sind verschwommen. Ich habe sie lange liegen gelassen und wusste nicht, was anfangen damit. Vor wenigen Wochen überkam mich die Idee, diese Briefe müssen ins Archiv. Sie müssen dort aufbewahrt werden, wo sie geschrieben wurden, in Buchenwald.

Als ich vor fast 35 Jahren zum ersten und einzigen Mal dort war, um an einer Gedenkfeier teilzunehmen, hatte ich auch Dokumente und Unterlagen meines Großvaters dabei. Diese liegen schon im Archiv und warten auf die Briefe. So ganz aus der Hand gebe ich sie nicht, denn in den letzten Tagen habe ich alle eingescannt. Es sind 106 doppelseitig beschriebene Blätter. Die Gefangenen durften anfangs nur zwei, später vier Mal im Monat an ihre Angehörigen schreiben. Entweder als Brief oder Postkarte. Beides gab es als Formblatt mit entsprechenden Anweisungen. Die Zeilen mussten eingehalten werden, es sollte lesbar geschrieben sein, was da nach Hause berichtet wurde. Natürlich durfte nicht über alles geschrieben werden, nicht über das erfahrene Leid, die Folter, den massenhaften Tod. Die Briefe enthalten, soweit ich sie entziffern konnte, nur Mitteilungen über den eigenen Gesundheitszustand, meist gut, und Fragen zum Alltag der Familie. Wie geht es der Frau, dem Mariechen, wie den beiden Kindern. Erzählt mir von eurem Alltag, bittet der Großvater. Jede Kleinigkeit interessiert ihn.

Er liest zwischen den Zeilen das Ungesagte. In seinen Fragen scheint es auf. Du schriebst von deiner geglückten Operation am Fuß. Warum habt ihr mir nicht zuvor schon davon berichtet, wollt ihr mich schonen? Auch die Briefe von Freunden werden in ähnlicher Form bedacht: Warum schreibt er über sein Haus, seinen Garten, nicht jedoch über seine Frau, seine Kinder? Die Post wurde zensiert, da mussten beide Seiten sehr genau darauf achten, was sie preisgaben. Dennoch schrieben sie in regelmäßigen Abständen. Die Briefe waren die Verbindung von Ehemann und Vater zu seinen Lieben. Das, was er wirklich erlebte, kommt in den Briefen nicht vor. Mir geht es gut, schreibt er. Einmal erwähnt er die notwendige Zahnbehandlung, man möge ihm Geld zukommen lassen dafür. Auch wenn ich nur wenig gelesen habe, so gehen mir diese Briefe nach. Vielleicht habe ich sie auch deshalb für mich digitalisiert, um sie eingehender lesen zu können. Die Originale werde ich Anfang Mai nach Buchenwald bringen. Dort wird mir auch ein Termin im Archiv zur Verfügung gestellt und eine Führung über die Gedenkstätte. Ich weiß nicht, was ich dort suche, werde es jedoch erfahren.

Meine Mutter hatte diese Dokumente ihres Vaters in einer Schublade aufbewahrt. Nach ihrem Tod lagen sie bei meinem Vater. Als auch seine zweite Frau verstorben war, landete die schwarze Mappe bei mir. Ich werde den Auftrag wohl annehmen und mich weiter damit beschäftigen. Die Briefe haben zum Teil Anmerkungen. Sie wurden von meiner Mutter nachträglich hinzugefügt. Der am 29. Juli 1934 versandte Brief trägt den Kommentar „Da habe ich meinen Vater besucht!“ Sie war damals sechs Jahre alt. Ein anderer Brief enthält den Kommentar: „Wenn man nichts mehr lesen kann, dann sind es Tränen, von Uroma, Oma, eurer Tante und mir.“

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