Gerade komme ich zurück von einer Shared Reading Session. Jeden zweiten Sonntag im Monat wird sie hier in unserem Viertel angeboten in Räumen der Johanniter-Unfall-Hilfe. Heute waren wir neun Personen, darunter auch die Leseleitung. Alles ältere Frauen. Wieder einmal war ich der einzige Mann. Das verfolgt mich. In vielen Gruppen, an denen ich teilnehme, gibt es überwiegend Frauen, manchmal auch mehrere Männer. Die sind dann jedoch in der Unterzahl. Mag sein, dass dies mit den Themen zu tun hat, die in solchen Gruppen bewegt werden.
Heute lasen wir einen Text von Patricia Highsmith. Darin geht es um einen Schriftsteller, der alle seine Bücher im Kopf schreibt. Keines davon hat er zu Papier gebracht. Daneben führt er ein Leben als Ehemann und Vater. Seine Arbeitszeit zum Bücher schreiben verbringt er im hauseigenen Arbeitszimmer. Vom Frühstück bis Mittagessen und danach bis zum Abendessen. Dabei sitzt er und denkt sich Seite für Seite aus. Am Ende hat er so viele Bücher im Geiste erstellt, dass er seine innere Bibliothek mit sich führen und sich daraus vorlesen kann. Eine verrückte Geschichte.
Da wir uns dem Inhalt solcher Geschichten in Etappen nähern, bleibt viel Platz für eigene Gedanken, Phantasien und Urteile. Sobald das „bis hier hin“ der Leseleitung ertönt, sind wir dran. Was das für ein Ehe- und Familienleben sei, fragt sich eine der Frauen. Der Mann kümmert sich ja nur um seine phantasierten Bücher. Die Frau hält ihm auch noch den Rücken frei, ergänzt jemand anderes. Und das arme Kind, meint jemand, das wird überhaupt nicht wahrgenommen vom Vater. Was ist daran so sonderbar, frage ich. Das gibt es doch in jeder Familie. Der Vater geht zur Arbeit, die Mutter bleibt zuhause und die Kinder müssen schauen, wo sie ihren Platz finden. Zumindest habe ich dies so erlebt. Wenn mein Vater dann mal Zeit hatte für seine Kinder, dann waren das ganz wenige Male.
So absurd die Geschichte auch sein mag, sie lässt doch schnell Parallelen aufkommen zum eigenen Erleben, der eigenen Erinnerung. In der Erzählung wird eine Kreuzfahrt erwähnt. Die ältere Frau mit dem Rollator erinnert sich an ihre „einzige und letzte“ Kreuzfahrt, die sie je gemacht hat. Ständig seien neue Gesichter aufgetaucht, sie habe sich die ganze Fahrt über nicht zugehörige gefühlt. So gibt es aufgrund von wenigen Sätzen, von kleinen Schilderungen im Text Erinnerungen an das eigene Erleben. Manch ein hartes Urteil über die Protagonisten wird gemildert durch eine Mitteilung über eine andere Sichtweise. Kann denn alles so schlimm gewesen sein für das Kind, fragt jemand. Es ist doch immerhin später in Oxford studieren gegangen, hat geheiratet und eine eigene Familie gegründet.
Und alles darf sein. Meine Sicht auf die Erzählung und die Sicht der anderen. Es steht nebeneinander. Niemand muss sich zur Wehr setzen, niemand muss die anderen überzeugen. Das macht das Erleben von Shared Reading so vergnüglich. Es ist, als würde die Beschäftigung mit der weichen Realität der Literatur dazu verhelfen, mit der harten Realität des Lebens besser zurecht zu kommen. Weil wir hier im Austausch erleben, wie unterschiedlich das Leben sein kann, lässt sich manche Unbill im Leben leichter ertragen. Immer vorausgesetzt, es gelingt, die unterschiedlichen Sichtweisen, Erinnerungen und Vorstellungen nebeneinander stehen zu lassen. Statt dem Entweder-oder das Sowohl-als-auch zu leben.
Beitragsbild: Homepage Lesevergnügen Bremen