Klarheit ist einfach. So stand es auf einem Flyer, der mir in die Hände fiel. Klarheit ist einfach. Ich fragte mich beim Lesen, wo ich die Betonung setzen sollte. Auf ‚einfach‘? Oder auf das ‚ist‘? Die im Flyer versprochene Methode, der Blick auf sich selbst, hat einen japanischen Namen: Naikan.
Naikan steht für Innenschau. Was mir der Flyer auch mitteilt, ist, dass es wie Fensterputzen sei und immer mal wieder für Klarsicht sorge. Ich hatte früher schon von Naikan gehört. Es war ein Beitrag in der ARD Mediathek. Dort wurde das Naikan Zentrum nahe Bremen vorgestellt. Menschen wurden befragt, die ihre Erfahrungen damit machen konnten. Auch zeigte der Beitrag, wie diese Methode in Suchtkliniken, in Schulen oder Gefängnissen eingesetzt und erfolgreich erprobt werden konnte. Ich war neugierig geworden damals. Und, als ich vorletztes Jahr diesen Flyer sah, da wusste ich, dass ich mich anmelden werde.
Eine Woche Naikan, das bedeutet eine Woche im Schweigen zu verbringen. Einzig der Naikan Lehrer begleitet seine Schützlinge in ihrem Prozess. Er kommt alle neunzig Minuten vorbei und lässt sich benennen, was diese über sich herausgefunden haben. Bei dieser Art der begleiteten Innenschau werden drei Fragen erkundet. Diese beziehen sich auf Menschen aus der Herkunftsfamilie und andere nahe stehende Personen. Betrachtet werden diese für einzelne Lebensabschnitte, beginnend mit den ersten fünf Jahren. Im Fünfjahresrhythmus geht es dann weiter, also fünf, zehn, fünfzehn Jahre. Bis zu dem Zeitpunkt, wo die im Fokus stehende Person verstorben ist oder dem Tag des Naikan. Das Ergebnis zur jeweiligen Person und dem jeweiligen Zeitraum wird vom Naikan Lehrer erfragt, wenn er nach neunzig Minuten vor dem Probanden erscheint. „In welchem Zeitraum und für welche Person hast du dich geprüft?“, lautet die Frage.
Es sind drei Fragen, die mit der ausgewählten Person und dem Zeitraum untersucht werden: Was hat diese Person für mich getan, lautet die erste. Was habe ich für diese Person getan, so die zweite. In der dritten geht es darum, welche Schwierigkeiten habe ich dieser Person bereitet. Mehr nicht. Keine Frage nach den Schwierigkeiten, die diese Person möglicherweise mir bereitet hat. Keine Frage nach dem Leid, den Problemen, den Verhältnissen, die mir möglicherweise Raum böten, mich als Opfer zu betrachten.
Eine Woche lang setzte ich mich mit diesen drei Fragen auseinander. Die Tage begannen mit einer gemeinsamen Meditation um 6:30 Uhr im großen Meditationsraum. Dieser gehört zu einem Hotel, das sich „Haus der Stille“ nennt. Es lädt Menschen ein, die sich dem Trubel entziehen wollen, die Ruhe suchen und Einkehr. Nicht nur die Hotelbetreiber und Mitarbeiter tragen dazu bei. Auch die Umgebung hilft, dies Ziel zu ermöglichen. Das Hotel liegt an der Nordseeküste außerhalb der kleinen Ortschaft Wremen. Besonders im Herbst und Winter ist hier wenig los. Selbst das Meer scheint gemächlicher zu sein im Verlauf seiner Gezeiten. Das Wasser zieht sich bei Ebbe fast unsichtbar zurück und erscheint genauso allmählich bei Flut. Wattenmeer Küste. Sie ist so flach, dass es kaum auffällt, wenn das Wasser ab- und wieder einfließt.
Eine Woche lang keine Gespräche mit den anderen. Eine Woche lang schweigend gemeinsam essen. Nach den Mahlzeiten zurück ins Zimmer, zurück hinter den Paravent und sitzen. Es ist Innenschau angesagt. Was hat meine Mutter im Zeitraum meines fünften bis zehnten Lebensjahres für mich getan? Was habe ich für sie getan? Welche Schwierigkeiten habe ich ihr in dieser Zeit bereitet? Auf der Suche nach Antworten umkreise ich die Wohnorte, die Wohnungen, die Menschen, mit denen ich damals zu tun hatte. Wo habe ich gewohnt? Wie sah es aus dort? An welche Personen kann ich mich erinnern? Und sobald ich merke, dass ich abschweife, rufe ich mich zurück zu meinen Fragen. Was hat meine Mutter in dieser Zeit für mich getan? Sie hat dafür gesorgt, dass ich zu essen bekam, sie kaufte ein, sie sorgte für Kleidung, für saubere Kleidung. Sie organisierte den täglichen Ablauf, die Kontakte zum Kindergarten, die Besuche bei Ärzten, das Wechseln der Schlafanzüge in den Fiebernächten. Sie sorgte sich um mich.
Doch was könnte ich in dieser Zeit als Fünf- oder Zehnjähriger für sie getan haben? Ich kann mich erinnern, dass ich beim Tischdecken half, beim Abräumen, beim Einkaufen. Dass ich ihr zu ihrem Geburtstag ein Bild gemalt habe. Zählt brav sein? Habe ich ihr nicht auch beim Aufräumen, beim Saubermachen geholfen? Ich weiß es nicht so genau. Also gilt es, darüber nachzudenken, mich an die Situation damals zu erinnern, die Umgebung, die Personen, die Wohnungseinrichtung, die Feiertage in der Familie, die Urlaube, die besonderen Gelegenheiten, wenn Besuch da war oder der Vater mit uns Kindern ins Schwimmbad ging. Was habe ich für meine Mutter getan? Am Ende ergab sich immer etwas, das ich dann erzählen konnte. Nach neunzig Minuten klopfte es an meiner Zimmertür, der Naikan Lehrer entschuldigte sich für seine Störung. Er nimmt sein Mediationskissen, legt es vor mich, setzt sich, verbeugt sich und fragt noch während sein Körper nach unten gebeugt ist: „Wem gegenüber und in welchem Zeitraum hast du dich geprüft?“. Nachdem er sich meine Ergebnisse angehört hat, bedankt er sich und gibt mir auf, mich für die nächsten fünf Jahre und dieselbe Person zu prüfen. Tatsächlich sprach er vom Prüfen.
Unterbrochen wurden die sieben Tage von den gemeinsamen Meditationen, dem Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Die letzte halbstündige Meditation beschloss den Tag. Dann war es zehn Uhr und ich war jedes Mal froh ins Bett zu dürfen. Draußen schrien die Möwen, manchmal schlugen Wellen an die Kaimauern in der Ferne, ein Frachtschiff ließ sein Nebelhorn ertönen und ich fiel in einen tiefen, festen Schlaf. Morgens um sechs hieß es aufstehen, anziehen und ab zur Morgenmeditation. Der nächste Tag begann da, wo der andere aufgehört hatte. Was hat diese Person in diesem Zeitraum für dich getan? Ich startete an einem Samstagnachmittag, beschäftigte mich den ganzen Sonntag über mit mehreren Zeiträumen und meiner Mutter und wollte am Montag abbrechen. Was tue ich mir da an? War ich nicht schon in genügend Therapien und habe all das aufgearbeitet? Wozu soll ich mich hier noch mit meiner Vergangenheit beschäftigen? Was soll das alles?
Am Dienstag hatte ich Momente des Glücks. Ich erinnerte Dinge, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gab. Spielsachen, die ich wiederentdeckte, gemeinsame Spiele mit Eltern und Geschwistern. Ballspiele mit Freunden, das Versunkensein im Spiel am Rande eines Flusses. Geschenke fielen mir ein, die mir zu Weihnachten und zu Kindergeburtstagen gemacht wurden. Die Oma, wie sie mir aus ihrem Portemonnaie einen „Groschen“ raussammelt, um ihn mir zu schenken. Am Mittwoch kämpfte ich mit den Erinnerungen an meinen Bruder. Er war vierzehn Jahre jünger als ich und mir wollte partout nichts einfallen. Ich fühlte mich unter Druck, gleich kommt Jörg, mein Naikan Lehrer, er will wissen, was mir zum Bruder eingefallen ist, ich muss Antworten präsentieren. So geriet neben meinen Erinnerungen auch etwas in mein Blickfeld, was mich aufmerken ließ. Mein Bestreben, den vermeintlichen Anforderungen Anderer gerecht zu werden. Was treibt mich dazu, hier Ergebnisse produzieren zu wollen über Zeiträume und Personen und Prozesse, die so viele Jahre zurückliegen? Was ist, wenn ich dies nicht tue? Was, wenn ich einfach sagte, mir ist nichts eingefallen?
Ich merkte, wie ich zornig wurde. Jörg will, dass ich hier funktioniere. Der zwingt mich in diese blöde Situation, Dinge zu präsentieren, Antworten zu finden, die ich nicht habe. Auch mein Bruder, der früh verstorben war, bekam jetzt sein Fett weg. Wieso hast du nicht von dir aus mit mir Kontakt aufgenommen? Warum hast du mir nicht erzählt, was mit dir los ist? Warum habe ich nicht gefragt, fiel mir ein. Als Jörg kam, erzählte ich ihm von meiner Wut, meinen Gedanken. Schreib es auf, sagte er. Schreib deinem Bruder einen Brief, teile ihm mit, was du damals nicht sagen konntest oder wolltest. Also schrieb ich. Und während ich schrieb, überkam mich eine große Traurigkeit. Die Wut war nach den ersten Sätzen verflogen. Er ist tot. Es ist nicht mehr möglich, mich um ihn zu kümmern, ihn zu fragen, ihm womöglich Hilfe anzubieten. Und neben meiner Trauer trat der Gedanke in den Vordergrund: Das will ich nicht wieder so erleben. Zukünftig werde ich meine Mitmenschen fragen, wie es ihnen „wirklich wirklich“ geht, warum sie zum Beispiel traurig sind.
Die nächsten Tage befragte ich mich zu den anderen Mitgliedern meiner Herkunftsfamilie. Auch zu meiner noch immer großen Liebe, Kerstin. Als Jörg am Donnerstag fragte, wie fühlst du dich, da sprach ich von Missmut und Unbehagen. Mit Blick auf all die Schwierigkeiten, die ich anderen bereitet hatte, fühlte ich mich mies. Auch hatte ich darüber nachgedacht, wie oft ich schon mich selbst und andere durch mein angepasstes Verhalten getäuscht hatte. Nun stell dir vor, so sagte Jörg, ein Freund beobachtet dich und dein bisheriges Leben von weit oben aus dem Weltall. Was würde er dir raten? Darüber musste ich nicht lange nachdenken: Höre damit auf, dich und andere zu täuschen, dann musst du nicht mehr missmutig und mürrisch sein.
Wovon ich anfangs befürchtete, dass ich es nicht aushalten würde, wünschte ich mir an den letzten beiden Tagen für immer andauernd. Eine unermessliche Fülle an Dankbarkeit lebte in mir all jenen gegenüber, die mir auf meiner Innenschau begegneten. Ein so noch nicht gekanntes unbeschwertes Gefühl der Verbundenheit mit meiner Vergangenheit, den Menschen, die meinen Weg begleiteten, den erinnerten Situationen. Alle haben etwas für mich getan. Ich habe etwas für diese getan. Und ich habe Schwierigkeiten bereitet.