HNO

Ich habe einen Verdacht. Dieser hat sich mir schon öfter aufgedrängt, doch heute morgen ist er mir zur Gewissheit geworden. Jedes Mal, wenn ich mir abends den Wecker stelle, um rechtzeitig wach zu sein für einen Termin, schlafe ich die Nacht hindurch schlecht. Wobei schlecht bedeutet, mit Unterbrechungen, vielen Unterbrechungen. Der Vorteil daran ist, dass ich meine Lektüre wieder aufnehmen kann, die ich zum Einschlafen begonnen hatte.

Meinen Termin hatte ich schon um acht Uhr bei einer HNO-Ärztin. Deren Praxis ist in einer Viertelstunde Fußmarsch zu erreichen. Dabei überquere ich die Friedrich-Ebert-Straße und die Langemarckstraße. Zwei geschichtsträchtige Namen, die mal direkt, mal indirekt mit der Bremer Geschichte zu tun haben. Tatsächlich war der Sozialdemokrat Ebert einmal Mitglied der Bremer Stadtverordnung und Besitzer einer Kneipe. Er nannte sie „Fritz Eberts Restauration und Bierhalle“ und kündigte zur Eröffnung im Jahr 1894 an, seinen oberen Saal „zur Abhaltung von Versammlungen und sonstigen Zusammenkünften“ bestens zu empfehlen.

Die HNO-Praxis befindet sich in der Langemarckstraße. Diese erhielt ihren Namen aufgrund eines Mythos aus dem ersten Weltkrieg. Die Oberste Heeresleitung verkündete damals, dass „junge Regimenter“ westlich von Langemarck gegen feindliche Linie vorbrachen und diese einnahmen. Dies stimmte weder in Bezug auf den Ortsnamen noch auf das Vorkommnis. In Wirklichkeit fand der Angriff nahe der Ortschaft Bixschote in Belgien statt und es wurden überwiegend Freiwillige, Ersatzreservisten und ältere Angehörige der Landwehr dort in den Tod geschickt. „2000 Mann Verluste kostete der deutsche Durchbruchsversuch am 10. November 2014“, schreibt Wikipedia. Aber Langemarck klingt wie Bismarck und es hätte eher lächerlich geklungen, die vermeintlich heldenhaften Taten an einen Ort zu binden, der Bixschote heißt.

Unser Bremer Freund Frajo kämpfte noch in den achtziger Jahren des vergangen Jahrhunderts um eine Umbenennung der Straße, da auch die Hochschuladresse damit geschmückt war. Was sie erreichten, war die Adressänderung auf eine Seitenstraße (und einen Seiteneingang). Die Langemarckstraße durfte ihren Namen behalten. Somit auch die HNO-Praxis, die ich aufsuchte. Ich experimentiere seit ein paar Wochen mit Hörgeräten, weil ich feststellte, dass ich auf meinem rechten Ohr nicht ansprechbar bin. Zumindest unter bestimmten Umständen nicht. Zum Beispiel, wenn es drumherum laut ist wie in Eberts Gaststätte damals oder bei „Zusammenkünften“. Das Ohr mag nicht hören. Die HNO-Ärztin sollte mir dies bestätigen, damit meine Krankenkasse ihre Kostenbeteiligung übernimmt.

Der Test wurde über Kopfhörer durchgeführt, die ich noch aus Zeiten kenne, als ich mich vor Jahrzehnten an einem Morse-Kurs der Volkshochschule beteiligte. Egal, ich musste Piepstöne wahrnehmen und mit einem Druckschalter quittieren. Jedes Ohr für sich. Anschließend gab es den „Freiburger Sprachverständlichkeitstest“, wobei Worte gesprochen werden, die ich nachsprechen musste. Die Sprechweise des männlichen Sprechers erinnerte mich an Filme mit Gustav Gründgens. Es kamen Worte darin vor wie Lärm, Los, Maus, Stoß und ich bemühte mich, alles ordentlich zu verstehen. Da liegt das Problem: Verstehe ich alles, dann bekomme ich keine Überweisung, denn die Kasse beteiligt sich erst bei einer Hörschwäche zwischen 75 und 80%.

Lassen Sie zwei Worte aus, dann erreichen Sie die 75%, riet mir mein Hörgeräteakustiker. Das war es vielleicht, was mich umtrieb diese Nacht. Lüge ich meine HNO-Ärztin an, um an die Überweisung zu gelangen? Oder strenge ich mich an und höre aufmerksam hin? Letzteres könnte dazu führen, dass sie den Kopf schüttelt und mich auf das nächste Jahr verweist. Im Test konnte ich nun wirklich zwei Worte nicht verstehen und brauchte garnicht zu betrügen, um die Überweisung zu erhalten. Allerdings nur für eines der beiden Ohren. Jetzt teste ich also weiter und experimentiere mit nur einem Hörgerät. Statt meine Umgebung in Gänze technisch gefiltert wahrzunehmen, lasse ich mich auf einen Kompromiss ein. Links natürliches, rechts technisch verstärktes Hören. Mal hören, was daraus wird.

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