Herr: Es ist Zeit

Ob er, der große Dichter, diesen Blick auch genießen konnte, damals in Worpswede? Wahrscheinlich gab es dort die Gartentische und -stühle nicht. Auch die Skulpturen entstammen späteren Jahren. Rilke kam im Sommer 1900 zum ersten Mal nach Worpswede. Neben diesem Haus von Hans am Ende lag der Barkenhoff, das umgebaute Wohnhaus von Heinrich Vogeler. Ich werde immer aufmerksam, wenn Literaten, Dichter, Schriftsteller und Künstler auf ein Podest gestellt werden. Manche gar als Genie bezeichnet in die Geschichte eingehen.

Da kommt es mir ganz gelegen, wenn ich ein wenig über deren Privatsphäre erfahre. So schreibt zum Beispiel Stephen Parker in seiner Biografie über Bert Brecht:

„Er las jetzt auch die großen französischen poètes maudits, Verlaine und Rimbaud. Noch hatte deren >wildes< Schreiben keine Spuren in seinen Werken hinterlassen, aber sehr wohl in seinem Verhalten. Er stank. Wie seine Helden wechselte er seine Kleider nicht, wusch sich selten und verzichtete aufs Zähneputzen. Seine Kindheit hatte er zurückgezogen verbracht, weil er sich wegen seiner fragilen Gesundheit geschämt hatte, jetzt ging dieser Junge mit den tadellosen Manieren in die Offensive und demonstrierte drastisch seine Verachtung für persönliche Hygiene, was, von vielen bezeugt, zur lebenslangen Gewohnheit wurde.“

Schwierig, denke ich mir. Schwierig mit solch einem Menschen über seine genialen Gedichte und Theaterstücke zu sprechen, wenn er stinkt. Vielleicht konnte er dies jedoch durch sein Zigarrenrauchen übertünchen? Rainer Maria Rilke war Zeit seines Lebens kränkelnd, die vielen Kuren in der Schweiz trugen nur wenig zur Linderung bei. Dennoch, oder gar deshalb, schrieb er Gedichte wie „Herbsttag“, worin auch die Zeile vorkommt, „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr / wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben […]“. Rilke fiel nicht nur wegen seiner kränkelnden Verfassung auf, er war auch wegen seiner permanenten Armut auf die Almosen seiner Umgebung angewiesen. Manch ein Zeitgenosse sah in ihm den Schmarotzer, der seine Umgebung immerzu um Geld und Unterkunft anfragte.

Und der Dichterfürst Wolfgang von Goethe? In der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) würde er heute in der Kategorie F10 eingeordnet. Diese beinhaltet „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“. Goethe soll täglich ein bis drei Liter Rotwein zu sich genommen haben. Heute würde er als Alkoholkranker bezeichnet. Es hat ihm jedoch nicht geschadet, immerhin wurde er 82 Jahre alt und starb an einem Herzinfarkt, nicht an einer Leberzirrhose.

Was doch alles passieren kann beim Blick aus dem Fenster in den herbstlichen Garten eines Hotels in Worpswede. Rilke kränkelte und schmarotzte, Brecht stank und rauchte, Goethe trank. Bestimmt ließen sich noch andere Größen der Literaturgeschichte finden, die ähnliche Symptomatiken aufzuweisen hätten. Was soll’s, denke ich mir. Ihre Werke stehen für sich und ihre dafür erhaltene Anerkennung ist gerechtfertigt.

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