Beim Frühstück heute morgen lese ich meine Online-Zeitungen. Ich spanne einen Bogen von links bis rechts, von Berliner Zeitung bis WELT. Dazwischen lasse ich mir die Welt erklären von den Nachdenkseiten, Multipolar und Manova. Während ich lese kommt mir das Zitat von Thomas Müntzer in den Sinn: „Es sind die Herren selbst, wenn ihnen der gemeine Mann Feind wird.“ Das Zitat stand auf einem Pappschild, das jemand mit sich trug auf einer Demonstration in Freiburg. Ein seit drei Jahren von jungen Menschen besetzter Gebäudekomplex war gestürmt, die Besatzer festgenommen und das Gebäude abgerissen worden. Anschließend entwickelten sich Demonstrationen, deren Teilnehmer von Tag zu Tag mehr wurden. Am Ende waren es 25.000 Menschen, die sich gegen das gewaltsame Ende eines vielversprechenden basisdemokratischen Projektes richteten.
Plötzlich bin ich in einer anderen Welt. Ich recherchiere im Netz, finde Augenzeugenberichte und Archivbilder. Ich vergesse meine Bremer Umgebung und befinde mich auf einer Zeitreise ins Jahr 1980. Damals lebte ich in Freiburg, ich lief mit auf den Demonstrationen. Der martialische Aufmarsch der Polizei, die Berichte über das Entern des Gebäudekomplexes in der Nacht, die Rufe der Demonstranten „SS, SA, SEK!“, all dies überschwemmt mich. Ich erinnere, wie ich mit großer Lust diesen Sprechchor unterstützte, wie ich den Hass gegen die Vollstrecker auslebte im Pulk der Masse. Es gruselt mich, wenn ich heute daran denke. Dabei war ich nur Mitläufer. An den gefährlichen Aktionen ganz vorne gegenüber der Phalanx von Polizisten nahm ich nicht teil. Auch die nächtlichen Sabbotageakte gegen anrückende Hundertschaften, billigte ich zwar, doch traute ich mich nicht aktiv mitzumachen. Ich hatte Angst, erwischt zu werden. Hatte Angst vor möglichen Konsequenzen.
Bist du noch immer bei diesen Leuten, fragte mich wenige Jahre zuvor meine Mutter. Mit Leuten meinte sie die Genossen vom KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Als Lehrling war ich in der Berufsschule mit einer Lehrerin in Kontakt gekommen, die von der Schule verwiesen wurde. Sie weigerte sich ihren Schülerinnen und Schülern Fünfen und Sechsen zu geben. Wir Schüler setzten uns für sie ein, demonstrierten, verfassten offene Briefe und schrieben an die örtliche Presse. Damals hatte ich keine Angst vor Sanktionen. Die Lehrerin war Kopf der Roten Zelle im Städtchen Waldshut. Sie lud uns bald ein zu Schulungen, wir sollten Mao, Marx und Lenin kennenlernen. So wurde ich assoziiertes Mitglied im KBW. Als noch unbekannter Genosse bestand meine Aufgabe darin, Kundgebungen anzumelden bei den Behörden. Auf diesen las ich Texte vor, die mir gereicht wurden. Agitation für die Sache der kleinen Leute. Was anfing mit Solidarität für eine sympathische Lehrerin endete im Kampf für die Rechte der Arbeiterklasse.
Meine Mutter war in großer Sorge. Sie erinnerte sich noch sehr gut an die Zeit als sie mit sechs Jahren ihren Vater verlor. Er ging für seine Überzeugung in den Untergrund, wurde von der SS gefangen genommen, gefoltert und bis zum Ende des Krieges in ein KZ gesperrt. Ihrem Sohn sollte dies nicht widerfahren. Ich verabschiedete mich von den Genossen, nachdem ich eine Einladung von der Kripo erhielt. Man war der Meinung, ich sei verantwortlich für unangemeldete Kundgebungen des KBW im Ort. Und man wollte erfahren, wer denn sonst noch im Dunstkreis dieser roten Zelle mitwirkte. Ich fragte die Genossen, wie ich mich am Besten verhalten solle. Geh nicht hin, sagte einer. Geh hin und merke dir gut, was sie alles wissen wollen, ein anderer. Geh hin und vertrete deinen klassenkämpferischen Standpunkt, sagte die Lehrerin.
Meinen klassenkämpferischen Standpunkt, den konnte ich gar nicht vertreten, er existierte überhaupt nicht. Als Bürgersohn, aufgewachsen in behüteten Verhältnissen, hätte ich nur diesen Status Quo vertreten können, alles andere war mir fremd. Als assoziiertes Mitglied musste ich meinen Austritt nicht begründen. Ich wurde auch nicht mehr nach meinen Gründen gefragt, denn als Teil eines bundesweiten Auflösungsprozesses der linken Gruppierungen, verschwand auch die Rote Zelle Waldshut. Die Genossen kauften sich endlich den schicken Honda, engagierten sich als Berater und Beraterin bei Rechtsanwälten und Immobilien Agenturen. Oder sie gingen den Weg durch die Institutionen. Einer von Ihnen, er gehörte jedoch einer anderen linken Gruppierung an, wurde sogar Ministerpräsident im Ländle. Aber das ist eine andere Geschichte.
Abbildung von OTFW, Berlin – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0