Akkord

Es fiel mir gerade ein, keine Ahnung, warum. Ich sitze am Küchentisch in einer Küche mit hoher Decke. Neben dem Küchenschrank führt links eine Tür in die Vorratskammer. Dem Tisch gegenüber befindet sich die Tür in den Flur und rechts an der Wand gibt es eine Badewanne mit Boiler. Daneben der Herd mit den vier Kochplatten unter denen die Kohlebriketts für ordentlich Hitze sorgten. Es ist die Küche der Großeltern, irgendwann in den siebziger Jahren.

Wir fuhren in den Sommerferien dorthin und verbrachten vier Wochen in der Wohnung, worin neben den Großeltern auch mein Onkel, meine Tante und eine Cousine lebten. Die Wohnung war groß, sie befand sich in einer Jugendstilvilla, etwas zurückversetzt von der Straße. Ein riesiger Garten hinter dem Haus lud zum Spielen ein. Der breite Flur der Wohnung trennte den Wohnbereich der Großeltern von dem der anderen Mitbewohner. Die Küche war der Platz, wo alle zusammenkamen, um zu essen und über alles zu berichten, was sich tagsüber abgespielt hatte.

In meiner Erinnerung sitze ich allein mit dem Onkel am Tisch. Es ist Sommer, selbst in der Wohnung ist es sehr warm. Der Onkel sitzt im Unterhemd, seine Hosenträger hängen links und rechts herunter. Er rechnet Zahlen zusammen, die sich auf einem schmalen Papierstreifen befinden. Der Onkel arbeitet in einer Fabrik, die Gummischläuche herstellt für jeglichen Gebrauch. Stolz erzählt er immer wieder, dass diese mit gewebten Bändern durchwirkt sind und daher besonders strapazierfähig seien. In der Schublade des kleinen Zimmers, das ich bewohnen darf, hatte ich eine Rolle davon entdeckt. Er und seine Arbeitskollegen arbeiten schon sehr lange in dieser Fabrik. Sie kennen ihre Handgriffe und jeder weiß, wie er seine Arbeit zu verrichten hat.

Nun sitzt er da und rechnet. Nach einem mehrmaligen Nachrechnen fängt er an zu weinen. „Was ist los?“, frage ich ihn. Er nimmt seine Brille ab, legt sie neben seine Zahlen und schüttelt den Kopf. Unter Schluchzen und nur schwer zu verstehen, flüstert er: „Ich war zu schnell. Ich habe zu viele Schläuche gemacht.“ Ich verstehe nicht und frage nach, was das denn zu bedeuten habe. „Der Mann mit der Stoppuhr war da. Jetzt müssen alle Kollegen genauso schnell arbeiten wie ich heute“ brach es aus ihm heraus und er schüttelte sich während ihm die Tränen über die Backen liefen.

Ich hatte damals keine Erfahrung mit Arbeit, mit Akkord erst recht nicht. Aber etwas blieb hängen aus dieser Szene. Nur, weil er einmal schneller war als sonst, werden seine Kollegen dazu verdonnert, zukünftig ebenso schnell zu arbeiten. Und er weinte, weil er das nicht beabsichtigt hatte. Er fühlte sich schuldig für etwas, das nicht in seiner Macht lag. Ich liebte meinen Onkel für sein Mitgefühl und das große Herz, das er in solchen Momenten offenbarte.


Abbildung: von Peter H auf Pixabay