Es klirrt im Frost

Manchmal gehen mir Bilder durch den Sinn, manchmal sind es Liedtexte oder Gedichtzeilen. Das kann daran liegen, dass ich sie erst kürzlich gehört oder gelesen hatte. Ich frage mich dann, warum gerade diese eine Zeile, warum diese Melodie, wo ich doch einiges mehr gehört und gelesen hatte. Etwas, das mir aus der Erinnerung immer wieder mal aufscheint, ist das Gedicht „Der Winterstier“ von Georg Britting. Aber dies alles wusste ich bis heute nicht. Erst durch eine Google-Suche fand ich den Autorennamen und das zugehörige Gedicht. Denn ich erinnerte nur diese eine Strophe:

Es klirrt im Frost
Der Buchenwald,
Das Buchenscheit
Im Ofen knallt.

Mehr nicht. Was ich damit verband, war die Kälte, der Frost und Buchenwald. Letzteres jedoch nicht als Bezeichnung für einen Wald voll mit Buchen. Das Konzentrationslager Buchenwald ist in unserer Familie ganz eng mit dem Großvater verknüpft, dem Vater meiner Mutter. Diesen lernte ich als Kind kennen bei unseren Besuchen in seiner Heimatstadt Hann.-Münden. Wir waren manchen Sommerurlaub dort. Opa Wilhelm verbrachte zehn Jahre seines Lebens in diesem Lager. Zehn Jahre, die seine Tochter ohne ihn verbrachte, zuhause zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter. Dort waren sie ausgesetzt den Schikanen der Waffen-SS, den Hausdurchsuchungen und der Ausgrenzung wegen ihrer Kontaktschuld.

Opa Wilhelm kam zurück aus Buchenwald, seine Haft endete als Panzer der US Armee im April 1945 das Lager angriffen. Die SS-Kommandantur flüchtete, die noch verbliebenen Wachen wurden von Häftlingen überwältigt. Dafür nutzten sie Waffen, die sie im Laufe der Jahre eingeschmuggelt und versteckt hatten. Es gab auch im Lager einen Widerstand. Als Mitglied der KPD war Opa Wilhelm von Anfang an beteiligt. Seine Tätigkeit als Kalfaktor im Kleiderlager ermöglichte es ihm, Mithäftlinge zu schützen und zu unterstützen. Als Überlebender des Lagers musste er sich später den Verdacht gefallen lassen, er hätte nur überleben können, weil er mit der Lagerleitung kollaborierte.

Anfang der 90er Jahre war ich mit Kerstin in der heutigen Gedenkstätte nahe Weimar. Es sollte ein Kranz niedergelegt werden zum Angedenken an die in Buchenwald vernichteten Sinti und Roma. Es war kalt damals, ein eisiger Wind zog über den Platz, der früher als Exerzierplatz diente. Die Lagerinsassen mussten dort über Stunden hinweg antreten. Sie mussten dafür büßen, wenn sich wieder einer ihrer Mithäftlinge in den elektrischen Zaun geworfen hatte. Bei Wind und Wetter standen sie in ihrer dünnen Häftlingskleidung. Lange Jahre danach erinnerte ich mich daran, wenn ich unter meiner warmen Dusche stand. Darf ich das, habe ich mich gefragt.

Ertappe ich mich heute dabei, mal flappsig zu bemerken, dass doch jedem das Seine gegönnt sei, dann fährt mir ein Schrecken durch die Glieder. Es mag wohl sein, dass es den Menschen als Individuen überlassen bleibt, wie sie ihr Leben leben. Es ist mir jedoch nicht mehr möglich, dies durch solch ein Zitat zu kommentieren.


Abbildung: Von Martin Kraft – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0