Mittlerweile praktizieren Kerstin und ich das Zwiegespräch seit über einem Jahr. Als ich vor kurzem einer Freundin davon erzählte, war sie etwas irritiert. Sie hatte gedacht, dies Verfahren sei doch nur zur Krisenintervention gedacht. Beim Zwiegespräch nehmen sich zwei Personen bewusst Zeit, um miteinander zu reden. Bei einer Dauer von neunzig Minuten werden den Beteiligten im Wechsel dreimal fünfzehn Minuten Sprechzeit eingeräumt. Wer spricht, erzählt von sich, über das eigene Befinden, über die eigene Sicht auf die andere Person, die Welt und alles, was gerade wichtig erscheint. Die andere Person hört aufmerksam zu. Es wird nicht kommentiert, nicht mimisch reagiert, nichts wird korrigiert oder geradegerückt. Jeder bleibt im Erzählen bei sich und erfährt beim Zuhören die Andersartigkeit des Anderen. Das Motto hinter der von Michael Lukas Moeller ins Leben gerufenen Methode lautet: Ich bin nicht du und ich weiß dich nicht.
Am vergangenen Wochenende saß ich mal wieder mit vierzehn anderen Menschen im Kreis und übte mich im Dialog. Aktives Zuhören, Entschleunigung, von sich sprechen, kein Kommentieren, die eigenen Impulse und Gedanken beim Zuhören beobachten. Es ist ein Erlebnis, das bei mir zu mehr Offenheit führt, zu einem vergrößerten Spektrum meiner Wahrnehmung. Nach einer kurzen Zeit trauen sich die Anwesenden von Gedanken, von Erinnerungen und Gefühlen zu sprechen in der großen Runde. Manche leiten dies ein mit „Jetzt traue ich mich mal …“. Auch am Wochenende konnte ich dies öfter vernehmen und in einem Falle blieb es nicht aus, dass ich die Erzählung damit kommentierte, das sei doch nicht schlimm gewesen, was erzählt wurde. Ich wollte empathisch sein, wollte mein Mitgefühl zeigen. Was ich jedoch auslöste, war das genaue Gegenteil. Die betroffene Person wehrte sich gegen meine Anmaßung. Ich könne doch gar nicht wissen, wie schwer es ihr fällt, das zu erzählen, was sie erzählte.
Damit hatte sie vollkommen Recht. Ich kann es nicht wissen. Und ich vermute, dass es mir in vielen Fällen so geht, dass ich glaube zu wissen, wie es jemandem geht, was jemand empfindet und wie eine andere Person ihre Leben erlebt. Nichts davon weiß ich. Und es gelingt auch nur in sehr seltenen Fällen, dass ein Mitgefühl möglich ist. Eine Therapeutin erzählte von ihren eigenen Angst- und Panikattacken in jungen Jahren. Von ihren zum Teil erfolgreichen Therapien, die es ihr wieder ermöglichten am Leben teilzunehmen. In ihrer eigenen Praxis erleben Patienten mit Angststörungen großes Verständnis für ihre Situation. Da kann jemand nachempfinden, wie es ist, von Ängsten geplagt zu sein. Der Bettler vor meinem EDEKA, der im Rollstuhl sitzt, seine Zigaretten dreht und aus seiner Bierdose trinkt – ich weiß nichts über seine Situation, sein Lebensgefühl. Vor einem halben Jahr hatte er noch ein Bein, jetzt hat er gar keine mehr. So möchte ich nicht leben, fällt mir bei seinem Anblick ein. Wie so oft, wenn ich Bettler, Verwahrloste, Menschen mit schwelenden Wunden sehe. Spreche ich diesen Menschen dadurch ihre Würde ab? So möchte ich nicht leben, also ist diese Art zu leben nichts wert?
Im Zwiegespräch erfahre ich viel über die Sichtweise, das Erleben, das Wahrnehmen von Kerstin, auch über ihren Blick auf sich selbst. Und sie über mein Wahrnehmen, mein Empfinden, meinen Blick auf mich, auf die Welt und auf sie. Wir praktizieren dies immer wieder wöchentlich und dennoch sind es nur ganz kleine Erinnerungen, die mir bleiben aus diesen Gesprächen. Kurz danach kann ich sagen, ach, jetzt glaube ich zu wissen, wie du tickst. Es ist jedoch immer nur eine Annäherung. Dennoch ist mir dieses Ritual wichtig, ich möchte es nicht missen. Die angebliche Erzählung eines Indianerhäuptlings, den anderen zu verstehen, wenn man in dessen Mokassins mehrere Meilen gelaufen ist, ist eine Legende. Eine nette und einlullende Legende. Vielleicht ein Wunsch nach Verschmelzung. Mir ist es hilfreicher die andere Person als andere zu erleben und über regelmäßige Einblicke die Möglichkeit zu haben, meine Sichtweise neu zu justieren.
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