Ich geh‘ mal eben umme Ecke, muss meine Beine vertreten, sagte ich zu Kerstin. Draußen schien die Sonne und mir war, als müsste ich nun wirklich mal raus. Den Vorwurf, immer nur zu sitzen, den wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Dabei hatte niemand ihn gemacht, außer ich mir selbst. Nun, dann also durchs Viertel laufen. Mir fallen beim Laufen nicht nur die Hausfassaden auf, es sind die Straßennamen, die mir ins Auge fallen. Sie heißen Waterloo, Sedan, Kolberg, Graudenzer oder Tauroggener Straße. Wenn ich die Straßenschilder lese, dann möchte ich gleich googeln, um zu erfahren, was es mit der Namensgebung auf sich hat. Ich tue es nicht. Zuhause dann sind wieder andere Dinge wichtig, die mich mein Vorhaben vergessen lassen.
Gestern jedoch las ich mich in Wikipedia ein zum Eintrag „Kolberg“ oder, wie ich erfahren konnte, Kołobrzeg, wie es heute auf polnisch heißt. Es gibt da eine Menge zu lesen, viele historische und geografische Fakten, die mich alle sehr beeindrucken und die ich mir alle gar nicht merken kann. Es gab dort See-, Sol- und Moorbäder. Kolberg gehörte einmal zur Provinz Pommern und war damit Teil Preußens. Mag sein, dass der Straßenname an dieses ehemalige Besitztum erinnern soll. So mancher Straßenname dient der Erinnerung. Auch die Neanderstraße, die ich überquerte. Der Pastor Joachim Neander war im 17. Jahrhundert hier in Bremen geboren und dreißig Jahre später gestorben. Dazwischen lebte er in Düsseldorf, wo er im Tal der Düssel unter offenem Himmel seine Predigten hielt. Die Predigten hatten großen Zulauf und alle sprachen vom Neandertal. Und weil man viele Jahre später alte Knochen unserer Vorfahren dort fand, wurden diese Vorfahren Homo neanderthalensis getauft.
Das alles weiß ich nur, weil ich es eben noch bei Wikipedia nachgeschaut habe. Was ich dort nicht suchen musste, war die Geschichte zu den Bremer Zigarrenmachern des 19. Jahrhunderts. Ich konnte sie in dem Buch lesen, das auf dem Tisch aufgeschlagen liegt. Das Denkmal hier in der Nachbarschaft erinnert an die Lage der Bremer Heimarbeiter auf sehr eindrückliche Weise. Dargestellt wird, wie in mühsamer und monotoner Handarbeit Zigarren hergestellt wurden. Beteiligt war daran die ganze Familie. Es brauchte zwölf bis vierzehn Stunden täglich für die Herstellung von 1000 Zigarren. Eine recht trübsinnige Arbeit, wie sich an den Gesichtern ablesen lässt. Das ist alles schon lange her und das Buch liegt dort, wo früher ein Vorleser saß. Jemand las den anderen vor, um die Monotonie der Arbeit zu unterbrechen. Vorgelesen wurde aus“sozialistischen Schriften und Zeitungen“. Dafür erhielt der Vorleser einen Obolus oder seine Arbeit an der Herstellung der Zigarren wurde von den anderen mitgetragen.
Kolberg, Neandertal, Zigarrenmacher. Wäre ich weiter gelaufen, so hätte ich noch die Peter-Weiß-Straße mitnehmen können auf meinem Spaziergang. Auch über ihn ließe sich einiges berichten. Meine Beobachtungen zeigen mir Orte, Personen oder soziale Missstände in der Vergangenheit. Das Denkmal erinnert mich daran, dass nicht alles selbstverständlich ist, was wir heute dafür halten. Eine für Angestellte und Arbeiter geregelte Arbeitszeit und ein gerechter Lohn heute, haben ihre Ursachen in den Arbeitsbedingungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Zigarrenmacher organisierten sich in Bildungsvereinen. Aus ihnen entstanden Gewerkschaften. Gewerkschafter erkämpften Arbeitsbedingungen, die wir heute nicht mehr missen wollen. Straßennamen und Denkmäler fordern mich auf, dies alles nicht zu vergessen. Wenn ich wach bin und meine Ohren spitze, dann höre ich sie rufen: Denk mal!