Am vergangenen Samstag traf ich die Archivarin der Gedenkstätte Buchenwald. Ihr Büro und das Archiv sind untergebracht in einem ehemaligen Gebäude der Waffen-SS, auf dem Ettersberg bei Weimar. Wie das für sie sei, fragte ich. Sie habe sich mittlerweile daran gewöhnt, anfangs sei es ihr schwer gefallen. Wir waren in Buchenwald, weil ich ihr die Briefe meines Großvaters geben wollte. Weil ich plötzlich wusste, dass diese hierher gehören. Ins Archiv. Nun bin ich im Besitz eines Akzessionsbogens, worin mit ihrer und meiner Unterschrift bestätigt wird, dass ich der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald Unterlagen geschenkt habe. Wir sprachen fast eine Stunde miteinander und ich bin mir sehr sicher, dass diese Hinterlassenschaften in guten Händen sind. Dann musste die Archivarin zurück zu ihrer Familie, ein Ausflug nach Leipzig stand auf dem Programm. Sie hatte sich extra Zeit genommen für unser samstägliches Treffen. Zeit nahm sich auch einer der Menschen, die für die Führungen über das Gelände zuständig sind.
Er macht das nun schon seit zwanzig Jahren, erzählte uns der Gästeführer. Dennoch könne er noch immer nicht nachvollziehen wie das Leben und Sterben im Lager gewesen sein muss. Auf unserem Rundgang hat er so viel zu erzählen über das Lager. Wir bleiben oft stehen, um seinen Ausführungen zu lauschen. Er zeigt, wo früher die Häftlingsbaracken standen, wo die SS-Kasernen, die Arrestzellen, das Krematorium, der Galgen. Jeder dieser Orte hat eine eigene Geschichte von Niedertracht, Qualen, Folter und Tod. Das ganze Gelände umfasst eine Größe von 500 Hektar Land. Es bräuchte sechs Fußballfelder allein für die Fläche des Apellplatzes. In den Zeiten der höchsten Belegung mussten hier morgens und abends 30.000 Häftlinge antreten. Dann wurde gezählt, ob die Anzahl an Häftlingen vom Vortag noch gleich ist mit der am Morgen. Als wir unterwegs waren auf dem Ettersberg, da hatten wir Glück, das Wetter war mild, es regnete nicht. Das sei unüblich, meinte unser Führer. Er nimmt sich immer einen zusätzlichen Pullover mit, wenn er von Weimar aus ins Lager aufbricht. Der längste Appell dauerte einmal über 17 Stunden. Danach mussten weitere Zahlen auf der Liste verändert werden, die Schwächsten brachen zusammen und blieben tot zurück.
Die Zahlen mussten stimmen. So auch die Dokumente, die den Zugang und den Abgang akribisch festhielten. Auf der Personalkarte meines Großvaters sind sie verzeichnet, unter der Rubrik „Strafen im Lager“. Dort heißt es „Überführt am“ und „zurück am“, wenn die Staatspolizei ihn zum Verhör abholt und wieder zurückbringt. Das waren zeitweise mehrere Tage. Was haben sie mit ihm gemacht, dort bei der Gestapo in Kassel? Auf dieser Personalkarte gibt es auch eine Personenbeschreibung. Neben der Körpergröße, der Haarfarbe, den Tätowierungen und anderen Merkmalen enthält sie die Rubrik „Charakter-Eigenschaften“. Allerdings wird hier nicht vermerkt wie menschenfreundlich oder gewalttätig ein Häftling ist. Es ist eine Chiffre, die den SS-Schergen mitteilt, welche Rolle der Häftling im Lager einnimmt. Da konnte Kapo, Blockältester, Mitläufer stehen oder ähnliche Kategorisierungen.
Auf der Personalkarte meines Großvaters steht der Vermerk „Brieftaube“. Ein Hinweis, dass ein Häftling als Informant oder Nachrichtenübermittler bekannt war. Entweder für die SS oder für den politischen Widerstand im Lager. Mein Großvater arbeitete in der Effektenkammer. Das, so beteuerte unser Gästeführer, war eine privilegierte Stellung. Es gab Heizungen, die Häftlinge waren nicht dem Wetter ausgesetzt und nicht den Prügeln der SS. Sie mussten auch keine Knochenarbeit leisten wie ihre Kameraden im Steinbruch oder den Rüstungswerken. Nun frage ich mich, war er in dieser Stellung aufgrund der starken Unterstützung durch die anderen politischen Gefangenen oder weil er es so gut verstand, die Wachleute zu informieren? Sein Überleben in den Gefängnissen der Gestapo und dem Lager Buchenwald wurde ihm nach der Befreiung zum Vorwurf gemacht. Es blieb der Verdacht, dies sei ihm nur gelungen, weil er mit der SS kollaborierte.