Alle woll’n nach Walle

In den Känguru Chroniken von Marc-Uwe Kling unterhalten sich der Protagonist und das Känguru über das magere Einkommen des Kleinkünstlers. Zum Trost meint da das Känguru, wenn man die Möbel umstellt in der Wohnung, könne man auch gut Urlaub machen zuhause. Ähnlich ist es mit den Ausflügen in die eigene Stadt. Es gibt Menschen, die fahren und fliegen weit weg, um sich in fremden Städten umzusehen. Das könnten sie billiger haben, wenn sie in der eigenen Stadt unterwegs wären. So bin ich heute im Stadtteil Walle gelandet. Mein neuer Augenarzt hat dort seine Praxis und da ich schon mal dort war, schaute ich mich um. Als ich in Bremen meine neue Arbeitsstelle antrat, da suchte ich nach einer Wohnung für mich und Kerstin. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wo es sich in Bremen am besten leben und wohnen lässt. Das Büro meines Arbeitgebers befand sich im Stadtteil Schwachhausen in einem alten Bremer Haus. Auch meine Unterkunft hatte ich in diesem Stadtteil gefunden. Es war ein ehemaliges Kinderzimmer in einem dieser typischen Bremer Häuser mit Klinkerfassade.

Schwachhausen war mir von meinen Spaziergängen bekannt. Die dortigen Häuser sind breiter und höher als in anderen Stadtvierteln. Neben den Reihenhäusern gibt es sehr viele Jugendstilvillen zu entdecken mit parkähnlichen Gärten. Mir war ersichtlich, dass hier das Geld zuhause ist. Angeblich liegt das Durchschnittseinkommen bei 53.000 EUR, nur 8% der Kinder leben in Harz-IV-Haushalten. In Schwachhausen zu wohnen, wäre prima gewesen, allerdings sind die Wohnungen entsprechend teuer. Meine Arbeitskollegen hatten mir Schwachhausen empfohlen, wohnten sie doch selber seit Jahren in dieser Umgebung. Andere Ortsteile wurden zwar benannt, doch gleich wieder entwertet. So auch Walle. Mein Kollege meinte lapidar, nach Walle woll’n sie alle. Ich hatte nie verstanden, was genau er damit meinte. Ist das ein Stadtteil, der sehr begehrt ist? Ist das einer, wo so viele Menschen leben, dass man nicht selber dort wohnen möchte? Ich weiß es nicht, heute wohne ich in der Neustadt. In Walle gibt es sehr viele Grünanlagen, kleine Reihenhäuser, inhabergeführte Geschäfte und Kulturorte. Die Anbindung an die Innenstadt ist durch Straßenbahn und Busse gut geregelt. Mein heutiger Ausflug brachte mich mit dem Bus ohne Umstieg direkt zum Waller Bahnhof.

In Walle steht auch der Waller Spargel, wie er von der Bevölkerung liebevoll genannt wird. Ein mit 235 Meter Gesamthöhe weit sichtbares Bauwerk. Der offiziell benannte „Fernmeldeturm Bremen“ dient noch heute als Antennenträger für Fernsehsender, Autotelefon, Richtfunk und Seefunk. Das Vorhaben, in die Betriebskanzel ein Restaurant einzubauen, hat sich leider zerschlagen. Man hatte darin schon Marmorböden verlegt, in der Hoffnung auf bessere Zeiten, doch die kamen offensichtlich nicht. Der Turm beherbergt nicht nur Antennen, er ist auch ein wunderbarer Nistplatz für Wanderfalken und gilt unter diesen als Top-Lage. In 98 Meter Höhe, wind- und wettergeschützt durch die Betriebskanzel, lässt es sich ungestört nisten. Angeblich schlüpften hier innerhalb der letzten 20 Jahre 63 Jungfalken. Zu Walle zählt auch der ehemalige Überseehafen mit seinen Hafenbecken und Lagerhallen. Heute entsteht dort ein moderner Stadtteil mit Neubauten für Wohnen, Büros und Gastronomie. Sogar aus den ehemaligen Kellogg’s Silos hat man ein Hotel gebaut. Ein Hotel mit 116 Zimmern und einer Penthouse-Suite, alle mit rundem und halbrundem Grundriss aber ohne TV oder Minibar. Dafür gibt es nachhaltiges Design, hochwertiges Interieur und einen grandiosen Ausblick über den ehemaligen Überseehafen.

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