In einem Nebensatz sagt unser Freund am Telefon, er sei die Treppe herabgestürzt. Oder sagte er, gefallen? Egal, wie dem auch sei, für einen alten Menschen kann dies sehr gefährlich werden. Als alter Mensch sollte man sowieso vorsichtiger sein. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich beim Überqueren der Straße mehrmals nach links und rechts blicke, ob denn wirklich kein Auto, kein Lastenfahrrad, kein eBike oder sonst etwas Fahrbares meinen Weg kreuzen wird. Auch dann, wenn die Ampel grün zeigt. Da ja früher alles anders war, erinnere ich mich daran, was alles passierte, als ich weniger Vorsicht walten ließ in meinem Leben.
Auf Bäume klettern und auf Gerüste, um am Ende festzustellen, dass es aufwärts einfacher ist als zurück. Mit dem Roller auf der Straße fahren und dann mit einem PKW kollidieren, der stärker ist. Aus einer Sprudelflasche einen kräftigen Schluck nehmen und feststellen, dass sie Terpentin enthält. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, könnte ein Arzt, ein Polizist, ein Richter fragen. Nichts, wäre meine Antwort. Ich habe es einfach getan. Auch als ich im Alter von vierzehn Jahren mit einem Freund durch die Umgebung unseres Dorfes strich und wir ein Mühlrad fanden. Ein richtiges Mühlrad aus Stein mit Loch in der Mitte. Nur mit gemeinsamer Kraftanstrengung konnten wir es aufrichten. Wir befanden uns an einem Berghang, oberhalb der Verbindungsstraße zum nächsten Dorf. Und, was dachten wir uns? Vielleicht, dass es doch einen Heidenspass machen würde, wenn wir dieses schwere Mühlrad den Berg runterrollen ließen. Mehr nicht.
Des Menschen Streben läge darin Lust zu suchen und Unlust zu vermeiden, so konnte ich es einmal lesen. Es mag was dran sein, wer will schon seine Zeit in Unlust verbringen? Jene, die dies als abhängig Beschäftigte erleben, können sich damit trösten, dass sie Schmerzensgeld dafür erhalten in Form von Lohn und Gehalt. Es ist kein Wunder, dass so viele Menschen zugeben, innerlich längst gekündigt zu haben. Sie verspüren wohl auch große Unlust ob der fehlenden Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Interessant finde ich, dass diese Menschen nicht schwersinnig werden, sie neigen eher dazu schwermütig zu sein. Aber dies ist eine andere Geschichte. Der Mühlstein rollte und hüpfte den Abhang hinab, es war eine große Freude ihm dabei zuzusehen. Mit einem letzten Sprung landete er auf der Straße und zerbarst. Erst in diesem Moment wurde uns klar, was wir hätten anrichten können. Natürlich rannten wir den Abhang hinunter und beeilten uns, die Einzelteile aufzusammeln und aus dem Weg zu räumen.
Natürlich taten wir dies nicht. Stattdessen rannten wir so schnell wir konnten in die entgegengesetzte Richtung in der Hoffnung, dass uns niemand beobachtet hatte. Von solchen Situationen erinnere ich einige. Es ist jedes Mal noch gut ausgegangen, niemand kam zu Schaden. Bis auf damals, als ich schon in fortgeschrittenem Alter mit dem Auto eine spontane Idee umsetzte. Ich befand mich auf einer vierspurigen Straße mit durchgezogenem Mittelstreifen. Mein Ziel hatte ich verpasst, es lag auf der linken Seite. Was lag daher näher, als mal eben die linke Spur zu überqueren, den Mittelstreifen als unbedeutende Farblinie zu interpretieren und umzukehren? Ich zog das Lenkrad nach links, erblickte aus dem Augenwinkel ein Fahrzeug, berührte es leicht und fuhr zurück in meine Spur. Die Lenkerin des anderen Wagens geriet derweil auf die Gegenfahrbahnen, wich zwei entgegenkommenden Fahrzeugen aus und schaffte es, am rechten Seitenrand zum Stillstand zu kommen. Sie hatte sich neben dem Schock auch eine Platzwunde zugezogen.
Noch im Krankenwagen wies sie darauf hin, dass ich einen U-Turn hätte machen wollen. Ich hätte einfach die Fahrbahn kreuzen wollen, um auf die andere Seite zu gelangen. Der Polizeibeamte, der mich befragte, erzählte, dass solche Kollisionen öfter vorkommen. Man möchte von der einen auf die andere Spur wechseln und vergisst den Schulterblick. Das könne passieren, es sei halb so schlimm. Und, was habe ich gesagt? Nein, die Frau hat ja Recht, ich wollte einen U-Turn machen. Es ist meine Schuld, dass sie den Schock und die Platzwunde davongetragen hat. Fast hätte alles noch schlimmer ausgehen können. Meine Schuld. Ich habe es nicht gesagt. Ich habe ihm zugenickt und bin nicht eingestanden für mein leichtsinniges Handeln. Angeblich werden Menschen im Alter reifer. Möglicherweise zählt zur Reife die Abnahme von leichtsinnigen Handlungen. Das Benutzen des Handlaufs beim Treppensteigen könnte dabei hilfreich sein.
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Reife geht, wie wir alle wissen, nicht zwangsläufig mit Weisheit einher – sondern oft nur mit besseren Ausreden. Ob Mühlsteine oder Moral, manches kommt eben erst ins Rollen, wenn es zu spät ist. Aber wenigstens wissen wir heute, dass grüne Ampeln nicht automatisch Sicherheit bedeuten und dass der Handlauf an der Treppe vielleicht die letzte Bastion gegen den Leichtsinn ist. Und außerdem: Schulterblick hilft immer.