Ein lieber Kollege aus alten Tagen schreibt mir eine Mail und fragt nach meinem Befinden. Er berichtet, dass er aktuell bei einer Firma arbeitet, deren Büroräume sich im Hochhaus des Glattzentrums befinden. Das Glatt ist ein Einkaufszentrum in Wallisellen, einem Ort ganz in der Nähe von Zürich.
Es gibt kaum einen Menschen, der sich nicht daran erinnert, wo er oder sie sich befand als die Twin-Towers in New York einstürzten. Wissenschaftler sprechen hier von „flashbulb memories“ (Blitzlichterinnerungen). Die können jedoch auch falsch sein, wie so vieles an das wir uns zu erinnern glauben. Ich lernte den Kollegen damals kennen als einen Mitarbeiter im Großraumbüro im Glatt-Hochhaus, der mit einer stoischen Systematik seine Kundenakquise betrieb und dabei immer freundlich blieb. Als wir uns später auch privat trafen, da zeigte sich, dass diese Freundlichkeit nicht nur dem Job geschuldet war, er war auch privat freundlich. Und, was mir besonders imponierte, er las Bücher, die nichts mit seinem Fachgebiet zu tun hatten.
Als die zwei Flugzeuge in die New Yorker Hochhäuser flogen, da holte mich der Inhaber und Chef des Unternehmens in sein Büro, um mir auf seinem TV-Bildschirm die furchtbaren Bilder zu zeigen. So zumindest glaube ich mich zu erinnern. Heute frage ich mich, warum er nicht alle Mitarbeiter gleichzeitig informierte. Ich durfte ob der schockierenden Bilder früher nach Hause fahren. Dort angekommen, schaltete ich sofort den Fernseher ein, um auch meine Familie zu informieren. Ich weiß, dass mir in der Folge das Starten und Landen der Flugzeuge auf dem nahgelegen Züricher Flughafen Angst einjagte und ich unwillkürlich meinen Kopf einzog, wenn ich eines sah. Aus dem siebten Stock, oben im Hochhaus, waren die Flieger gut zu sehen, ich hätte den Piloten zuwinken können.
Das alles ist jetzt 23 Jahre her. Die Mail meines Kollegen rief mir diese Erinnerung wach. Seine Rückmeldung auf meine Mail beinhaltete einen Satz, den ich seit gestern mit mir rumtrage. Ich hatte ihm kurz beschrieben, was alles passierte in meinem Leben, unter anderem, dass ich eine Ausbildung zum Sterbebegleiter absolvierte. Darauf Bezug nehmend schrieb er: „Ich sehe den Tod als natürlichen Schritt in unserem Leben, allerdings würde mir die Seite «Zukunft und wie geht es weiter» fehlen.“ Jetzt frage ich mich, ob ich da etwas ausblende, wenn ich mich den Sterbenden widme. Wie sieht es aus mit meiner Zukunft und dem wie es weitergeht?
Als ich nach Bremen zog, da wollte ich „noch mal was Anderes machen“. Das ist gelungen, wir sind umgezogen, wir haben uns eingewöhnt, haben neue Menschen, gar Freunde kennengelernt. Nach vier Jahren in Bremen kann ich dies sagen. Und jetzt? Wie geht es weiter? Ich habe in meinen vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass es immer irgendwie weiter ging. Sogar ohne mein Planen, Drängen und Ziehen. Da gab es Jobwechsel, da gab es Weiterbildungen und neue Begegnungen mit Menschen. Vieles, das meiste davon, war ungeplant. Rückblickend war es gut. Rückblickend neigen wir Menschen jedoch dazu, die Erinnerungen so zu gestalten, dass sie zur momentanen Verfassung in Einklang stehen. So bin ich, so war ich, so bleibe ich, kann ich dann sagen. Manchmal, wenn ich mich langweile, dann spüre ich Ungeduld, dann möchte ich Abwechslung und Erlebnisse. Ich möchte dann nicht abwarten, was als nächstes passiert in meinem Leben.
Das lässt sich ändern, indem du dich auf den Weg begibst, sagt eine innere Stimme. Mein Kollege schrieb von seiner vierwöchigen Wanderung durch Nordspanien. Von Bilbao nach Finisterra war er allein unterwegs. Eine Pilgerreise mit vielen neuen Eindrücken und Begegnungen. Rumen durchquerte mit einem Esel Bulgarien, auch dies war eine Art Pilgerreise. Vielleicht sollte ich mir zulassen, dass noch einiges passieren kann in meinem etwas fortgeschritteneren Leben. Dabei stellt sich mir die Frage: Lasse ich mich überraschen oder sorge ich für Überraschungen?
*Die Lautsprecherdurchsage „S’ischt glatt im Glatt“ wurde im Katastrophenfall als Aufforderung verwendet, das Gebäude sofort zu evakuieren.
Abbildung: Von Skyscraper2010 – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0