Eben war ich zu Besuch im Krankenhaus. Oben im fünften Stock liegt ein Mann in seinem Bett und stirbt. Am Montag kommt er in ein Hospiz, dort erinnert nur wenig an ein Krankenhaus. Dort konzentriert sich alles um den Menschen und seine Bedürfnisse. Als ich kam, stand sein Mittagessen (2x Suppe, 1x Joghurt) auf dem Tablett. Es war halb zwölf vorbei und zu dieser Zeit wird gegessen auf dem Stockwerk der Onkologie. Genauso wird morgens um 6:30 Uhr die Tür aufgerissen und Fieber gemessen, Infusionen gelegt, der Tropf ausgetauscht, die Windel gewechselt und das Bett frisch bezogen. Kurz danach kommt das Frühstück. Wie soll man da Ruhe finden?
Als ich neben dem Bett sitze und Herrn W. beim Schlafen zusehe, da blicke ich auch aus dem Fenster. Das zieht sich über die gesamte Breite des Zimmers und gibt den Blick frei über die Dächer von Bremen. Einzelne Gebäude stechen hervor. Da ist die Stephanie Kirche mit ihrem spitzen Turm, weiter rechts der alte Fernsehturm, das Jacobs Hochhaus und unzählige alte und junge Hausdächer der Wohnungen und Bürogebäude. Ein Hochhaus in der Ferne sticht mir ins Auge, es ist das sogenannte Bamberger-Haus. Der jüdische Kaufmann Julius Bamberger hatte 1929 das erste Bremer Kaufhaus erbauen lassen. Es war neun Stockwerke hoch und oben auf dem Dach gab es ein Café mit wunderbarer Aussicht. Die Bremer schlossen es schnell in ihr Herz und nannten es Bambüddel. Bambergers Kunden kamen aus den Arbeitervierteln im Westen, er erlaubte ihnen das Anschreiben der Rechnungen. Auch eine Armenküche gab es im Kaufhaus mit kostengünstigem Essen für die Bedürftigen. Julius Bamberger musste Bremen verlassen, sonst hätten die Nazis ihn in ein Vernichtungslager verbannt. Er starb 1951 in Los Angeles, seine Frau blieb in Bremen und nahm sich im Juni 1940 das Leben.
Mein Blick über die Dächer wird unterbrochen durch die leise Stimme von Herrn W. Helfen Sie mir bitte, mich umzudrehen. Ich folge seinen Anweisungen und hebe ihn an unter der linken Schulter während er sich dehnt, um in eine bequemere Lage zu kommen. Nachdem ich mich wieder setzte, bittet er, ich möge noch einmal nachhelfen, jetzt auf der rechten Seite. Danach kam das linke Bein dran, dann das rechte obenauf. Den Rücken stützte ich mit zwei Kissen, so dass er sich nun in einer relativ stabilen Seitenlage befindet. Danke, sagt er, jetzt ist es gut. Gern geschehen, antworte ich und setze mich zurück auf meinen Besucherstuhl. Plötzlich kommt mir ein Lied in den Sinn von Franz-Josef Degenhardt. Es trägt den Titel „Väterchen Franz“ und er schreibt über jene, die im Aussatz lebten am Rande der Vaterstadt, jene, die man nicht ertragen hat. Zu ihnen zählte das „Hasenschartenkind, das Biss, wenn’s bitte sagen sollt'“. Das tut Herr W. nicht, dazu wäre er auch viel zu schwach. Bitte sagen, das ist etwas, was mir von klein auf beigebracht wurde. Es macht vieles leichter im Umgang mit den Mitmenschen. Bitte, geben Sie mir etwas zu trinken, sagt Herr W. und ich wundere mich, wie freundlich er ist, trotz seiner traurigen Situation. Er bittet mich um Hilfe, die ich ihm liebend gern gewähre.
Ein sehr berührender Beitrag. Und wieder etwas dazugelernt: Ein bisschen Heimatkunde (Bremen) und Geschichte (Bamberger). Menschen und Geschichte(n) – das ist doch ein wunderbarer Auftrag für einen Blog. Dass er mit hohen Ansprüchen an die Sprachästhetik geschrieben ist, steigert den Genuss. Danke dafür.
Herby in Montréal