Gerade erhielt ich einen Hinweis darauf, dass der Sprachwissenschaftler Bernhard Pörksen ein Buch veröffentlicht habe mit dem Titel „Zuhören“. Pörksen ist mir schon öfter über den Weg gelaufen, wenn auch nicht persönlich, so doch mit seinen Büchern. Eines der letzten war überschrieben mit „Die Kunst des Miteinander-Redens“. Jetzt also Zuhören. Da mag manch einer denken, dass dies doch nicht schwierig sei, das können wir doch alle. Jemand spricht und wir hören zu. Und wenn er geendet hat oder schlechterdings, schon wenn er Luft holt, dann entgegnen wir etwas, das uns gerade eingefallen ist. Eingefallen ist uns dabei oft, was sich an den gehörten Schlüsselwörtern festmacht oder den daraus abgeleiteten Meinungen. Leider geht es oft nicht darum, nachzufragen wie dies oder jenes gemeint sei. Es geht nicht darum, die Begriffe und pauschalen Aussagen aufzudröseln, sie im Detail anzuschauen, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln.
Oft erlebe ich, dass es in öffentlich dargebotenen Gesprächssituation darum geht, bei der nächsten Gelegenheit, dem nächsten Luftholen, die eigene Sichtweise, die eigene Gesinnung vorzutragen. Diese Art von Gespräch führt am Ende dazu, dass derjenige sich durchsetzt, der am lautesten spricht. Oder, derjenige, der am häufigsten die immergleichen Aussagen wiederholt. Wenn etwas so oft gesagt wird, dann ist bestimmt was dran, werden vor allem jene Zuschauer denken, die solche Gespräche am Fernseher verfolgen. Das alles hat mit gelingender Kommunikation oder einem echten Zuhören nichts zu tun. Momo, das Mädchen aus Michael Endes Roman, die konnte zuhören. Ihr lag es nicht daran, den Moment abzupassen, wo es ihr gelingt, ihre Meinung kundzutun. Ihre Art des Zuhörens beschreibt Michael Ende so:
„Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte; nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie im ihm stecken. […] Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst sei nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte. Dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören.„
Das ist etwas ganz und gar anderes, als das Zuhören, das ich oft erlebe. Die Sozialwissenschaftler Chris Argyris und Peter Senge zeigten auf, welche mentalen Prozesse es sind, die uns zu Handlungen führen. Sie bezeichneten diese als „Leiter der Schlussfolgerungen“, weil Stufe für Stufe Prozesse stattfinden, die unsere Handlungen bedingen. Das geschieht auch beim Zuhören und hat oftmals katastrophale Folgen. Die erste Stufe dieser Leiter der Schlussfolgerungen beinhaltet das Wahrnehmen von Daten beim Zuhören. Die zweite Stufe bezieht sich auf den Vorgang des Auswählens. Diese Auswahl beruht auf Überzeugungen und früheren Erfahrungen. Auf der nächsten Stufe werden diese ausgewählten Informationen interpretiert und erhalten eine persönliche Bedeutung. Die darauffolgende Stufe beinhaltet die Annahmen, die wir aufgrund der vorangegangen Stufen (Wahrnehmen, Auswählen, Interpretieren) treffen. Als nächstes werden Schlussfolgerungen gezogen und Überzeugungen entwickelt. Die letzte Stufe der Schlussfolgerungen bezeichnet die Aktion, die wir aufgrund all der anderen Stufen vollziehen. Das alles geschieht sehr sehr schnell und unbewusst.
Und so schnell wie wir diese Stufen durchlaufen, so schnell passiert es dann auch, dass wir Dinge sagen, die wir bei längerem Nachdenken so nicht hätten sagen wollen. Um diesen automatischen Abläufen entgegenzuwirken, braucht es Zeit und das Bemühen, sich beim Zuhören zu beobachten. Was passiert da gerade in mir, wo interpretiere ich? Wo stelle ich Bezüge her zu meinen Erfahrungen, wodurch entwickeln sich meine Überzeugungen? Diese Zeit zur Selbstbeobachtung ist im Alltag nur selten gegeben. Deshalb wird in Dialogrunden mit Hilfe von Redeobjekten das (schnelle, spontane) Reagieren eingehegt. Der Prozess von Rede und Gegenrede wird entschleunigt. Wer etwas berichten möchte, muss in die Mitte gehen, sich das Redeobjekt holen, sich zurück auf seinen Platz begeben und sprechen. In der Zwischenzeit hören die anderen zu. Und sie beobachten sich beim Zuhören. Sobald die Person mit dem Redeobjekt geendet hat, steht sie auf, legt das Objekt zurück in die Mitte und kehrt zurück auf ihren Platz. Das dauert. Und es verschafft allen anderen die Zeit, die sie benötigen, um sich darüber klar zu werden, ob sie überhaupt irgendetwas erwidern wollen.
Dieses Erwidern, so ist meine Erfahrung aus vielen solchen Dialogrunden, erübrigt sich oft auf wundersame Weise. Lag mir noch eben eine Entgegnung auf der Zunge, so ist daraus etwas geworden, das ich getrost loslassen kann. Vielleicht ein anderes Mal oder auch garnicht, kommt mir in den Sinn. Das hat was sehr befreiendes, wenn ich nicht ständig reagieren muss, wenn nicht aufgrund der Abfolge von Schlussfolgerungen eine hektische Abfolge von Rede und Gegenrede entsteht. Zuhören kann auch etwas Wundervolles sein, das dazu dient Beziehungen lebendig zu erhalten. So erzählt Anthony de Mello hierzu: Auf Rat seines Meisters hörte ein Ehemann seiner Frau einen Monat lang aufmerksam zu. Als er wieder zum Meister kam, fragte er, was er noch tun könne nachdem er nun gelernt habe auf jedes Wort, das sein Frau sprach, zu hören. Darauf entgegnete ihm der Meister mit einem Lächeln: „Nun gehe nach Hause und höre auf jedes Wort, das sie nicht sagt.“
- Bernhard Pörksen: Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen. Hanser Verlag
- Mehr zur Leiter der Schlussfolgerungen unter www.toolshero.com (engl.)
- Anthony de Mello: Zeiten des Glücks. Herder Verlag (booklooker)
- Michael Ende: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. Schulausgabe mit Materialien (S. 14-15).