Stoiker

In meinem Online-Treffen gestern fragte eine ältere Teilnehmerin, ob wir gut ins neue Jahr gekommen seien. Was verstehst du unter „gut“, fragte ich zurück. Naja, bei der aktuellen Weltlage und nun mit Trump als Präsident und der Krieg … wurde mir geantwortet. Ich entgegnete, mir sei diese Sichtweise neu. Ich hätte bislang daran gedacht, dass ich gesund und wohlbehalten die Datumsgrenze überschreite. Aber da gäbe es doch so viel Schlimmes in der Welt, das könne man doch nicht übersehen. Das schaue ich mir nicht an, erwiderte ich, da ich durch das ständige Lesen der Nachrichten nichts an den Vorkommnissen ändern könnte.

Aber man müsse doch darüber informiert sein, was in der Welt geschieht, empört sich meine Gesprächspartnerin. Nein, sage ich, das führt nur dazu, mein Seelenheil zu stören, meine Unzufriedenheit zu nähren. Und, was viel schlimmer ist: meine Angst. Angst essen Seele auf, hieß es einmal in einem gleichnamigen Film von Rainer Werner Fassbinder. So ist es. Und die Angst engt uns ein in unserem Fühlen und Denken. Nachdem ich zum wiederholten Male den kleinen Ratgeber von Rolf Dobeli „Die Kunst des digitalen Lebens“ gelesen hatte, hörte ich auf mir ständig Nachrichten reinzuziehen. Morgens, mittags, abends. Ich versuchte diese Art der News-Sucht damit zu begründen, dass ich doch wissen müsste, ob einer der Wahnsinnigen den roten Knopf gedrückt habe. Dabei würde ich dies als erstes bemerken, ist doch Deutschland auserkoren zum Schlachtfeld im Falle eines atomaren Schlagabtausches zwischen den USA und Russland.

Lange habe ich die Abstinenz nicht durchgehalten. Heute ertappe ich mich wieder dabei, wie ich beim Frühstück die Berliner Zeitung scanne. Die Öffentlich-Rechtlichen Medien meide ich weiterhin. Dennoch gelingt es mir, mich nicht in die Angstfalle drücken zu lassen. Beim Lesen der Überschriften und manch einem Artikel erscheint es mir ähnlich wie beim Meditieren. Wenn Gedanken und Bilder auftauchen und die Konzentration auf den Atem stören, etikettiere ich sie mit „Gedanken“ oder „Bilder“ und lasse sie weiterziehen. Es hilft mir auch, wenn ich mich daran erinnere, dass unter den abertausenden von möglichen Nachrichten aus der Welt nur eine sehr begrenzte Anzahl in unserer Medienwelt erscheinen. Und diese veröffentlichte Meinung hat starken Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Art, wie wir auf die Welt blicken.

Lebte ich in  Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, dann hätte ich eine ganz andere Wirklichkeit, die wichtig für mich wäre. Auch hier in Bremen begrenzt sich meine Wirklichkeit auf meine Straße, mein Viertel, meine Freunde und Bekannten und den Austausch mit diesen. Mir geht es dabei weniger darum, welche Ansichten sie haben zu den veröffentlichten Nachrichten. Mich interessiert davon zu hören, wie es ihnen geht und wie es ihnen gelingt ihr Leben gut zu gestalten. Wir könnten lange über all das schimpfen, was in der Welt (welche Welt?) geschieht. Wir könnten uns dabei vergewissern, dass wir die selbe Sicht darauf haben. Oder wir stellen fest, dass dem nicht so ist. Manche Freundschaften sind dadurch schon zerbrochen.

Nachdem ich zweimal betont hatte, mein Interesse für das Weltgeschehen würde an diesem nichts ändern, bezeichnete mich die Sprecherin als Stoiker. Da war es ihr gelungen, mir ein Etikett anzuhängen. Wir hatten keine Zeit, ihr Verständnis von Stoizismus zu vertiefen. Mir gefällt jedoch das Etikett, denn von den Stoikern wird gesagt, sie strebten nach Gelassenheit und Seelenruhe. Das tue ich auch.


Abbildung von Paolo Monti – CC BY-SA 4.0

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