Der Abwasch

Um sechs Uhr erklingt ein Gong, fünfzehn Minuten später sitzen wir alle hinter unseren Paravents im Meditationsraum. Der NAIKAN Leiter setzt sich auf sein Kissen, zündet ein Räucherstäbchen an, lässt eine Klangschale erklingen und anschließend viermal einen schweren Gong. Es ist Zeit für die Morgenmeditation. Nach dreißig Minuten erklingt wieder der Gong, dieses Mal mit nur drei Schlägen. Wir bleiben auf unseren Sitzkissen hinter unseren Papierwänden und beschäftigen uns mit der letzten Aufgabe des Vortages. Diese nahmen wir mit in die Nacht, sie begleitete uns im Schlaf und auch in der Meditation am Morgen. Um sieben Uhr kommt der NAIKAN Leiter zur Befragung.

Wenn überall Stille herrscht, wenn nicht gesprochen wird, wenn ich selbst seit Stunden mit niemandem gesprochen habe, dann wird jedes Wort, jedes Geräusch sehr bedeutungsvoll. Wie betritt der NAIKAN Leiter den Raum? Geht er schweren Schrittes oder leichtfüssig? Läuft er zuerst zu den Fenstern rechts und öffnet diese, um anschließend nach links durch den Raum zu laufen, um auch diese Fenster zu öffnen? Wohin wendet er sich als erstes, vor wessen Paravent wird er sein Sitzkissen legen, sich darauf niederlassen, sich mit einem „Entschuldige“ ankündigen?

An manchen Tagen, wenn ich noch keine Beispiele finden konnte, die ich ihm brav präsentieren wollte zu seinen Fragen, da sagte ich innerlich „nicht ich, nicht ich“. Es funktionierte nicht immer. Ich sitze und beschäftige mich mit meiner Aufgabe und lausche mit großer Neugier, was meinem Nachbarn so wichtig ist zu erzählen. Manchmal flüsternd, manchmal etwas lauter, manchmal mit tränenerstickter Stimme, manchmal mit Empörung und Zorn. Ich reime mir zusammen, was ich nicht verstehen kann. Ich versuche mir ein Bild zu machen vom Leiden der Anderen.

Etikettiere dies als Bewertung, sagt der NAIKAN Leiter. Ebenso wie das Räuspern, das Husten, das Nase putzen, das Schniefen der Anderen. Etikettiere es als Geräusch und widme dich deiner Aufgabe. Innenschau. Auf der anderen Seite meiner Papierwand sagt eine Stimme „Entschuldige bitte“. Ich antworte „ja“ und schon öffnet der NAIKAN Leiter meine Papierwand und verbeugt sich vor mir. Und in der Verbeugung bleibend, ohne mich dabei anzusehen, sagt er, wie die vielen Male schon zuvor: „Für welchen Zeitrum und für welche Person hast du dich geprüft?“ Meine Antwort hat zur Folge, dass er mich nach Beispielen fragt für die erste der NAIKAN Fragen: „Was hat diese Person in diesem Zeitraum für dich getan?“.

Er möchte Fakten. Er möchte nicht, dass ich nur darauf hinweise, dass ich umsorgt wurde. Nein, es wurden Windeln gewechselt und gewaschen. Ich wurde angezogen, meine Kleidung wurde gekauft, gewaschen und bei Bedarf gestopft und geflickt. Es wurde eingekauft, gekocht, Fläschchen oder Breichen oder später auch ganze Mahlzeiten bereitgestellt. Alles von meiner Mutter. Sie war da, sie pflegte, kochte, kaufte ein und sorgte dafür, dass ich groß werden konnte. Wer diesen Blick auf die Personen seiner Herkunftsfamilie, auf Eltern, Geschwister, Oma und Opa sowie Freund oder Freundin eingeübt hat, empfindet nur noch Dankbarkeit. Kein Groll, keine Schuldzuweisung, kein Hadern und kein Nörgeln. Einfach nur Dankbarkeit.

Es sind immer fünf Jahre meines Lebens, die ich in eineinhalb Stunden mir vergegenwärtige. Was hat diese Person damals für mich getan, was habe ich für sie getan und welche Schwierigkeiten habe ich ihr bereitet. Nichts weiter. Dabei zeigt sich mir meine Verantwortung für mein Leben, mein Handeln. Und es zeigt sich, dass ich nicht das Opfer gewesen bin, das ich in so vielen Therapiestunden zuvor in den Fokus meiner Aufmerksamkeit stellte. Ja, ich habe Krankheiten gehabt und dadurch einige Schwierigkeiten bereitet. Ja, ich habe Essen verweigert, habe Geschwister geschlagen, habe Wesen gequält und einmal gar eines getötet. Und ich habe in allen Phasen meines Lebens von allen Personen immer etwas bekommen, ihnen immer etwas gegeben und immer auch Schwierigkeiten bereitet.

Es gibt pro Tag acht Gespräche, also die Fragen nach Beispielen für meine Innenschau. Dazwischen tauche ich ein in Erinnerungen an meine Wohnorte, meine Kinderzimmer, meine Begegnungen mit anderen Menschen, meine Erlebnisse und Verhaltensweisen. Es gibt vier Abwechslungen pro Tag, sie bestehen aus den drei Mahlzeiten, die uns gebracht werden und dem Duschen am frühen Nachmittag. Ein Gong im Flur weist darauf hin, dass es Frühstück, Mittagessen oder Abendessen gibt. Der NAIKAN Leiter betritt den Raum, setzt sich vor einen der Paravents (ich zuerst! Ich zuerst!) und mit einem „Das Frühstück“ öffnet er die Papierwand und reicht dem Praktizierenden ein japanisches Tablett mit Porridge, Obstsalat, Joghurt und frisch gepresstem Obstsaft. Alle Mahlzeiten sind aussergewöhnlich köstlich.

Das Tablett wird nach dem Essen vor den Paravent gestellt und die Innenschau geht weiter. Irgendwann geht die Tür zum Meditationsraum auf, es sind Schritte zu hören, die Tabletts werden abgeräumt, die Schritte entfernen sich, die Tür geht auf und wieder zu. Stille tritt ein. Jemand räuspert sich, jemand schiebt sein Sitzkissen zurecht, jemand seufzt. Ich tauche wieder ein in die Welt des Fünfjährigen, Vierzehnjährigen, Dreißigjährigen. In eineinhalb Stunden werde ich befragt, ich erzähle von meinen Erinnerungstrophäen, meinen Begegnungen mit Menschen und von den Schwierigkeiten, die ich bereitet habe. Dieses Mal sind nicht alle Familienmitglieder dran. Es beginnt zwar mir Mutter und Vater, doch sind dies fast schon Lockerungsübungen für mich, sie bringen mich wieder in den NAIKAN. Im Gegensatz zu meinem ersten NAIKAN geht es jetzt weiter mit der Innenschau zu meinem Körper, zu meiner Seele, zu den Menschen, die mich bis heute in meinem Leben begleitet haben.

Am Samstagmorgen gilt es ein letztes Mal die Antworten auf die drei Fragen mitzuteilen. Ein letztes Frühstück beendet die NAIKAN Woche. Wir sitzen zur Abschlussrunde zusammen. Jetzt erst sehe ich meine Mitstreiter zum ersten Mal. Jetzt kann ich ihnen auch danken dafür, dass sie den Raum und die Übungen mit mir geteilt haben. Denn obwohl jede und jeder mit sich beschäftigt war, gab es doch einen unsichtbaren Faden, der zwischen uns Verbindung herstellte. Dies fiel mir während der Woche ganz besonders auf, als ich mein Praktizieren in mein Zimmer verlegte. Dort gab es ein Sofa und ich saß darauf um einiges besser als auf meinem Meditationskissen. Ich spürte jedoch, dass ich abgeschnitten war, dass ich alleine war und ich sehnte mich zurück in die Umgebung der unsichtbaren aber anwesenden Anderen. Die wenigen Geräusche, die wenigen Äußerungen, die ich mitbekam, schufen diese Verbindung ebenso, wie das Wissen um die Anwesenheit der beiden Anderen.

Wir sind alle miteinander verbunden. Wenn ich dies früher jemanden sagen hörte, da dachte ich, ja, ja, noch so eine Lebensweisheit. Hier im NAIKAN habe ich es gespürt, erlebt. Auch konnte ich die tiefe Dankbarkeit wieder spüren gegenüber allen Menschen, die mir in meiner Innenschau begegneten. Ich war überwältigt und gerührt von so viel Wohlwollen und Liebe mir gegenüber all die vielen Jahre hinweg. Als wir uns verabschiedeten und ich auf dem kleinen Bahnhof des niedersächsischen Örtchens stand wo sich auch das NAIKAN Zentrum befindet, da erinnerte ich mich an den Ausspruch meines Dialog-Lehrers Freeman Dorothy. Gefragt, wie es sei, wenn man die Erleuchtung erlangt habe, meinte er nur: Nach der Erleuchtung: der Abwasch.

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