Ich musste wohl ein recht verkniffenes Gesicht gemacht haben. Ausreichend für Kerstin, um mich zu fragen, was denn Schlimmes passiert sei in meiner Lektüre. Wir saßen am Frühstückstisch und beide lasen wir. Die Frau ist verrückt, sagte ich und las weiter. Kerstin auch. Sie freute sich über die Clique von alten Frauen, die sich an einem Mann rächen, der seine Frau hintergeht. Wie man würdevolllos altert, heißt ihr Buch. Sie hatte mir davon erzählt. Da sie kurz darauf ihr Buch zur Seite legte, fragte ich, ob ich ihr etwas vorlesen darf. Ich wählte eine der Stellen, die mich das Gesicht verkneifen ließen. Als ich fertig war, wollte sie wissen, warum ich mir das antue.
Es gibt Bücher, die kann ich nicht zur Seite legen. Ich muss bis zum Ende weiterlesen. Ich will wissen wie dieses Ende sein wird. Dann lies doch zuerst das Ende, meint Kerstin. Dann weiß ich nicht, was dazwischen passiert ist, erwidere ich. Das kannst du ja von hinten erschließen, sagt Kerstin und widmet sich wieder ihrer neuen Lektüre. Nein, das kann ich nicht. Ich muss wissen, wie es zu einem Ende gekommen ist. Ach, übrigens, es geht hier um das Buch „Beteigeuze“ von Barbara Zeman. Ich weiß nicht, wie ich es gefunden habe, irgendwer hatte es wohl empfohlen und ich bin recht anfällig für Empfehlungen. Das kann auch dazu führen, dass ich ein Buch nicht zu Ende lese, weil es mich nicht fesselt.
Die Protagonistin in Beteigeuze ist eine Frau, die mit ihrem Freund Josef in Wien lebt. Das, was sie aus der Ich-Perspektive beschreibt, ist in meinem Verständnis das Erleben einer Verrückten. Ihre Wahnvorstellungen existieren zwar in ihrem Kopf, doch haben sie auch Auswirkungen auf ihr Handeln. Beim Lesen befand ich mich zwischen Faszination, Mitfühlen und Fremdschämen. Was tut die da, fragte ich mich oft. Und zwischendrin spürte ich, wie mir diese lebhafte Phantasie sehr nahe kam. Das erkannte ich erst, als ich merkte wie froh ich war, mit Kerstin ein paar Sätze zu wechseln. Da war ich wieder im Hier und Jetzt. Danach tauchte ich wieder ein und verlor mich in solch‘ wunderbaren Sätzen:
Die Häuser sind müde, die Häuser stehen seit Jahrhunderten Schulter an Schulter aneinandergepresst und von oben stößt der Himmel unaufhörlich gegen ihre Dächer, die warten nur darauf, dass ich komme, da lassen sie sich gehen und knicken ein, wollen sich zum Ausruhen auf meine Schultern legen, sonst haben sie keinen Wunsch.
Trotzdem, als ich das Buch fertiggelesen hatte, musste ich mich von der Anziehungskraft dieser Sätze befreien. Unter der Dusche wollte ich mich zurückholen in die Realität, abwaschen die Verrücktheit, die mich so irritierte und faszinierte. Es gelang mir erst, als ich mich beim Rasieren schnitt, da war ich wieder hier und vergaß die Hitze des Riesenplaneten und die Sehnsucht nach der Verbundenheit mit dem sterbenden Stern.
Wem die Lust nach Irrsinn und Verlorenheit steht – hier gibt es die Möglichkeit für eine Auszeit von wenigen Stunden einzutauchen in andere Erfahrungswelten.
Barbara Zeman
Beteigeuze
ISBN : 978-3-423-28415-8
Abbildung: Akira Fujii derivative work: Henrykus (talk) – Hubble_heic0206j.jpg