Das sprach Kerstin eben aus: Jeder hat so seine Lebensrealität. So ihr Kommentar, nachdem ich ihr aus den Nachdenkseiten vorgelesen hatte zum theatralischen Ende der Regierungskoalition. Da frage ich mich, welche Lebensrealitäten es wohl gibt in diesem Land und anderswo. Sicher sind es so viele, wie es Menschen gibt. Denn jeder trägt seine eigenen Bilder „der“ Realität mit sich herum.
Jenny ist der festen Überzeugung, dass wir alle irgendwie miteinander verbunden sind. Tim sieht in allen muslimischen Menschen Israelhasser. Conny meint, dass am palästinensischen Volk ein Genozid verübt werde. Fred isst nichts, was ihn vom Teller her mit traurigen Augen anstarren könnte. Catrin hält alte weiße Männer für die Ursache allen Übels. Mattes sieht in allen Autofahrern die Schuldigen für den Untergang der Welt. Tasso meint, der Angriff Russlands auf die Ukraine gründet auf der Osterweiterung der NATO. Lisa glaubt, Russland will seine imperiale Macht auf ganz Europa ausdehnen. Rico sieht in den USA die hegemoniale Macht, die von Finanzimperien gesteuert wird. Arne glaubt, die Digitalkonzerne vernebeln unsere Köpfe. Reggi ist sich sicher, dass im Hintergrund die Reichen und Mächtigen ihr großes Reset umsetzen.
Mein Nachbar sieht jeden Tag die Tagesschau. Meine Nachbarin zusätzlich die Talkshows der unterschiedlichen Sender. Frau Gruber lebt im Altenheim und ist fest davon überzeugt, dass DIE Jugendlichen heutzutage faul sind, das könne man ja im Fernsehen sehen. Herr Moser liest die Zeitung und sieht den Faschismus auf uns zu kommen. Medien machen Meldungen und Meldungen prägen Realitäten.
Ich besuchte gestern eine alte Dame im Altenheim. Sie ist über neunzig Jahre alt. Mir begegnete eine freundliche und für ihr Alter sehr jung aussehende Frau. Sie lag in ihrem Bett und hatte gerade erst ein Bad genossen. Das sei so schön gewesen, sagte sie mir. So schön. Sie habe alles verloren beim Bombenangriff auf ihre Straße. Als sie zurück sind aus dem Bunker, da war alles weg. Die Nachbarn auch, die im Erdbunker waren. Sie wäre im Hochbunker gewesen und hätte Glück gehabt. Auch dies eine Realität. Diese Frau trägt noch immer die Erinnerung mit sich an die traumatischen Erlebnisse jener Bombennacht. Und sie knüpft daran an, wenn sie sagt, alle reden wieder vom Krieg, hoffentlich kommt keiner. Vielleicht sollten wir mehr über unsere Ängste sprechen. Und über unsere Wünsche, unsere Vorstellungen von einer Zukunft, worin diese Angst keinen Platz mehr hat.
Beitragsbild: Skulpturengruppe „Erwartung“ (Jimmi D. Paesler, Worpswede)