Manchmal ist es gut, Dinge zu vergessen. Auch Ereignisse, Vorkommnisse und alle damit verbundenen Personen, die in der Vergangenheit den eigenen Lebensweg gekreuzt oder begleitet haben. Manchmal ist es traurig, sich nicht mehr erinnern zu können. Dies jedoch nur dann, wenn es einem noch gelingt, diesen Verlust als solchen wahrzunehmen. Ich war auf einem Vortrag zum Thema Umgang mit demenziell erkrankten Menschen. Bevor es jedoch soweit kommt, dass alles in Vergessenheit gerät, gibt es Abstufungen, die mit dem Altern zu tun haben. Alltagsvergesslichkeit, nennen es die Fachleute. Ich gebe mich mit dieser Erklärung gerne ab, wenn mich meine liebe Ehefrau mal wieder daran erinnert, dass wir doch über dieses oder jenes gesprochen hätten. Oder, wenn sie mich darüber aufklärt, dass doch unser erstes Auto ein Nissan gewesen sei und der von mir genannte Mazda erst viel später den Reigen von Fahrzeugen ergänzte.
Es reicht mir aus, an Alltagsvergesslichkeit zu denken. Es tröstet mich. Damit ist das Ereignis normal, andere Menschen haben es auch und ich kann es meinem Alter zuordnen. Bei der Suche nach Dingen wie Brille, Schlüssel, Zeitung, Buch, eReader, Laptop, Smartphone oder Anziehsachen und dergleichen habe ich noch keine Probleme. Sie liegen an ihrem Platz. Die Frage „Wo ist mein Handy?“ kommt mir nur dann in den Sinn, wenn ich es an Orten verstaut habe, die untypisch sind. Mein System sieht für bestimmte Gegenstände bestimmte Orte vor. Solange ich diese erinnere, finde ich meine Alltagsgegenstände. Nachdenklich stimmt mich mein Vergessen, wenn es im Gespräch mit Kerstin zur Sprache kommt. Damals, als die Kinder noch klein waren, da waren wir doch auf diesem Campingplatz in Spanien, erzählt sie. Da hatten wir doch diese Zeltnachbarn mit ihrem kleinen Kind, wie hießen die noch? Oder, als unser Sohn Max in die Schule kam, wie hieß noch seine Klassenlehrerin? Namen sind in meinen Schubladen nicht vorgesehen.
Ein Hausbesitzer hier im Viertel hat die Sockelwände seines Mehrfamilienhauses neu gestalten lassen. Mehrere Tage lang sprühten zwei Männer aus ihren Lacksprühdosen Farbe an die Wände. Sie trugen spezielle Atemschutzmasken, um sich vor dem Sprühnebel zu schützen. Erst waren die Wände olivgrün, so dass ich dachte, jetzt würde irgendeine Szene zum Thema Kriegstüchtigkeit gestaltet. Am anderen Tag zeigten sich Baumstämme, Moos und zwei Pilze. Es sollte ein Wald werden, sagte mir einer der Künstler. Ich fragte ihn, ob das Bild so düster bleiben wird. Der Kunde sei König, er wolle es so, war seine Antwort. Am dritten Tag sah ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es waren sehr viele Baumstämme und nur sehr wenig Grün am Boden. Am vierten Tag gab es zwei Pilze mehr und einen Sonnenaufgang hinter den Bäumen. Die Stämme zeigten jetzt ein leichtes Orange an den Seiten wo die Sonne hintraf. Es gibt noch Licht am Horizont, dachte ich mir.
Am fünften Tag blickte jemand hinter einem der Baumstämme hervor und ich meinte ihn zu kennen. Eine kleine Figur mit Pudelmütze, rot-weiß-gestreiftem Shirt und einem Spazierstock. Als die Kinder klein waren, da suchten wir in den Wimmelbilderbüchern nach diesem Kerl. Die Szenen waren so bunt und kleinteilig, dass es lange dauerte ihn zu finden. Heute Nacht, als mein Wecker 4 Uhr anzeigte, fragte ich mich: Wie heißt der rot-weiß-gestreifte Kerl mit seiner Pudelmütze? Dann erinnerte ich mich an ein Bild, dass ich in Montpellier aufgenommen hatte vor vielen, vielen Jahren. Ich fand es in einer meiner digitalen Schubladen mit der Aufschrift MeineBilder. Ein Unterordner trug den originellen Namen „Sonstige“. Es zeigt den Kerl an einer Hauswand. Jemand hatte ihn dort hingeklebt, fast nicht zu sehen, dort, wo sonst die Hunde hinpissen. Mir war er damals aufgefallen.
Jetzt weiß ich, dass er Walter heißt, hier in den deutschsprachigen Bilderbüchern. Der Suchmaschine sei Dank. In Kanada nennen sie ihn Waldo und jener in Montpellier wird Charlie gerufen. Walter trägt nun seinen Namen, zumindest in meinem Gedächtnis. Ob ich ihn wieder vergessen werde?