Kennst du …?

Wir laufen hier nicht nur durch die Gegend. Viel Zeit verbringen wir damit, unsere Sicht auf die Welt im Großen und Kleinen auszutauschen. Das bleibt nicht aus bei Bücherlesern. Für mich nicht mehr unerwartet, höre ich Rumen mitten im Gespräch fragen, kennst du …? Dann folgt der Name eines Schriftstellers, oder der Titel eines Buches. Rumen springt auf, läuft an sein Bücherregal, greift sich ein Buch, setzt sich wieder, sucht eine Textstelle und liest vor. Wenn ich bei mir zuhause ein Buch erinnere und dieses einem Besucher zeigen möchte, dann dauert es sehr lange, bis ich es gefunden habe. Manchmal muss ich meine Suche auch aufgeben, weil ich nicht weiß, wo ich es einsortiert hatte. Hier im Arbeits-, Wohn- und Besucherzimmer unter dem Dach, da findet Rumen seine Zitatquellen ohne langes Suchen. Vielleicht auch deshalb, weil er erst vor Kurzem aus alten Holzpaletten Bücherregale baute. Seine Bücher sind frisch einsortiert.

Sag mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist?

In einem Interview spricht der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz über seinen letzten Lebensabschnitt. Er versuche, seine Hinterlassenschaften zu ordnen. Hierzu zählt für ihn unter anderem der Verkauf von Büchern oder das Verschenken. Es ist ihm nicht gelungen. Er könne seine Bücher, die zum Teil mehr als vierzig Jahre sein Leben begleiten, nicht weggeben. Da stecke doch in jedem Buch ein Stück Seele. Das finde ich bemerkenswert. Ein Stück Seele steckt in jedem Buch. Wir hatten bei unserem Umzug vom Bodensee nach Bremen mehrere Kisten Bücher aussortiert und an den Buchhändler Medimops verkauft. Beim Sortieren fragte ich mich oft, wie lange schon begleitet mich dieses Buch, dieser Titel in meinem Leben? Jedes Buch, das ich in die Hand nahm, löste eine Erinnerung aus. Ich weiß ungefähr, wann ich es mir angeschafft und wann ich es meist mit großem Interesse gelesen hatte. Allerdings könnte ich heute nicht mehr sagen, was genau darin geschrieben steht. Doch es war wichtig zu seiner Zeit.

Die Bücher, die in die Kiste kamen, trugen keine Erinnerungen mit sich. Oder sie fielen unter den Bann, „da schau ich eh nicht mehr rein“. Was natürlich verlogen ist, die Seelenbücher stehen im Regal und werden auch nicht mehr aufgeschlagen. Doch sie erinnern. Zum Beispiel ein gelbes Buch mit dickem schwarzen Titel auf Buchrücken und Titelseite: Der Kneuss. Ich weiß, dass ich mir dieses Buch Jahre später, nachdem ich es gelesen und verliehen hatte, im Antiquariat kaufte. Es wurde mir nicht zurück gegeben. Ich musste es im Regal stehen haben. Beim Blick auf den Titel erinnere ich mich daran, dass der darin beschriebene Protagonist ein Einzelgänger, ein Unikat war. Einer, der sich gegen die ihm auferlegten gesellschaftlichen Verpflichtungen zur Wehr setzte. Ein Renitent. Ich erkannte mich zu jener Zeit darin wieder. Der Direktor meines Gymnasiums nannte mich renitenten Repetent, weil ich keine Möglichkeit ausließ, eine Schulklasse zu wiederholen. Der Kneuss war ein Typ und er war mir sehr sympathisch. Daran erinnere ich mich, wenn ich das gelbe Buch zwischen all den anderen Büchern wiedersehe.

Themen, die wir bewegt haben.

Rumen hat mir gleich vier Bücher aus dem Regal gezogen. Die müsse ich kennen. Die müsse ich lesen. Viele seiner Fragen nach dem „Kennst du …“ muss ich mit Nein beantworten. Ich lese andere Bücher. Ich lese auch nicht Nietzsche, Thomas Bernhard oder Michel Houllebeque. Rumen gelingt es oft, Zitate aus seiner Lektüre einzubringen während unserer Gespräche. Bei uns zuhause halte ich mich mit dem Zitieren zurück, denn Kerstin kennt die wenigen Zitate schon auswendig, so oft habe ich sie damit schon genervt.

Für Heute haben wir uns nichts vorgenommen, es ist der letzte Tag meines Aufenthalts. Und während ich hier schreibe im Gästezimmer, da läuft im Hintergrund Musik. Es ist Erik Satie und seine Gnossiennes, die Rumen aufgelegt hat. Eigentlich eingeschoben, denn es ist eine CD. Und tatsächlich dachte ich daran, in das ein oder andere Buch reinzulesen, das Rumen mir aus dem Bücherregal gezogen hat. Bisher kam ich nicht weiter als bis zum Klappentext. Ich werde seinen Rat als Anregung hören und mir überlegen, ob ich dieser nachkomme. Satie, Regen, Nebel verhangene Berge, zwitschernde Vögel und nichts zu tun haben. Diese Stimmung passt sehr gut zu meinem letzten Tag.

3 Gedanken zu „Kennst du …?“

  1. Mein Freund P. ist gerade in ein Heim für betreutes Wohnen eingezogen. Er ist nicht sehr vermögend, aber das Heim ist relativ luxuriös. Weil er sich nicht von seinen Büchern trennen konnte, hat er trotz des stolzen Mietpreises ein eigenes Zimmer als Bibliothek dazu gemietet. Daraufhin angesprochen, meinte er neulich: „Hätte ich mich von meinen Büchern getrennt, wäre das für mich wie eine Amputation gewesen. “
    Ich habe, bis auf wenige Ausnahme, kaum eine emotionale Bindung zu meinen Büchern. Beim letzten Umzug wollten wir uns von gut und gerne tausend Büchern trennen. Leider wollte sie keine Bibliothek, keine Privatsammlung, keine Organisation. Jetzt stehen sie in Kisten verpackt herum statt in Regalen. Wir lesen/hören seit einigen Jahren ohnehin nur noch digital. Das berühmte Blätterrauschen vermisse ich nur noch selten.

      1. Die sind fast ausschließlich von Freunden und Bekannten geschrieben – unter anderem von Anne Gesthuysen, Uli Franz, Alexander Gorkow, Uli Herzog, Nikolaus Piper und Bernd Längin …

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