Auf der Terrasse unseres Freundes Thomas am Bodensee entdeckte ich diesen Kerl. Obwohl, es ist ein wenig despektierlich, wenn ich ihn hier als Kerl bezeichne. Also, ich entdeckte diese Skulptur und sie setzte sich fest in meiner Erinnerung. Es gibt noch einige andere sehr skurrile Figuren in der Wohnung unseres Freundes. Manche sind zusammengesetzt aus gefundenen Knochen, Gefieder und Fell, Draht und bearbeitetem Stein. Thomas ist Steinmetz, Bildhauer und bildender Künstler. Ich fragte ihn, ob sie zu verkaufen wäre diese Figur und zu welchem Preis.
An eine konkrete Antwort von ihm kann ich mich nicht erinnern, doch der Kerl blieb mir weiter in Erinnerung. Als wir uns ein Jahr später zu meinem Geburtstag in einem Gasthaus trafen, da begegnete ich ihm wieder. Thomas brachte ihn mir mit als Geschenk. Bekanntlich sind ja selbstgemachte Geschenke besonders wertvoll. Dieses hier freute mich umso mehr als ich erfahren durfte, dass sich Thomas an unser Gespräch damals erinnerte. Und, weil ich weiß oder zu glauben meine, dass es einem Künstler besonders schwer fällt, sich von seinen Kunstwerken zu trennen. Ich transportierte das behutsam eingewickelte Geschenk in meinem Trolley zurück nach Bremen. Das Geschenk hat es wohlbehalten überlebt, der Trolley nicht. Eines seiner Räder hielt dem Gewicht nicht stand und zerbrach.
Statt wie bisher auf der Terrasse bei Thomas Wind und Wetter ausgesetzt zu sein, darf die Skulptur nun in einem windgeschützten Raum sein Dasein fristen. Er steht auf meinem Bücherregal, gleich neben dem Schreibtisch. In Sichtweite. Eine innere Stimme sagte mir, nenne sie Lenz. Das leuchtete mir sofort ein, denn auch in Georg Büchners Erzählung „Lenz“ taucht gleich zu Beginn eine Beschreibung auf, die zu diesem steinernen Lenz passt:
Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nicht’s am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.
Manchmal kann ich diesen Wunsch nachvollziehen. Nicht, weil ich unter den selben psychotischen Schüben leide wie jener Lenz in Büchners Erzählung. Es ist eher so, als möchte ich meinen Blick auf die Welt umdrehen, mich den alten bekannten Verhältnissen entziehen. Als wäre es möglich, dem Druck auf Kopf und Schultern zu entfliehen, wenn ich auf dem Kopf gehe. Und als könnte ich mich dieser Schwere entledigen, wenn ich die Verhältnisse, also mich, auf den Kopf stelle.
Nun muss nicht jeder auftauchende Wunsch gleich umgesetzt werden. Ich weiß ja auch, dass der Kopfstand möglich ist, das Kopfgehen eher nicht. Als ich Thomas von meiner Namensgebung erzählte, da erinnerte er sich, dass ihn zur selben Zeit als er Lenz erschuf Büchners Drama „Woyzeck“ beschäftigte. Viele Jahre später nenne ich seine Skulptur „Lenz“ nach einem Drama von Georg Büchner. Zufall?