Schlange stehen

Von Freitag bis Sonntag besuchten wir Freunde im Bergischen Land. Wir verbrachten meinen Geburtstag in Düsseldorf. Erst wollten wir in die Gerhard Richter Ausstellung. Dort angekommen, standen schon viele Menschen Schlange vor dem Eingang. Also, dachten wir, trinken wir erst einen Kaffee und sehen dann weiter. Tatsächlich war später die Schlange der Wartenden kleiner, doch uns war nicht mehr der Sinn nach Bildern einer Ausstellung. Uns zog es in die Innenstadt, wo es auch sehr illustre Ausstellungen gibt und vor allem: sehr unterschiedliche Menschen.

Auf dem Weg zur Königsallee, auch „Kö“ genannt, hörten wir Protestrufe. Eine Kundgebung fand statt mit vielleicht hundert Menschen, die Fahnen trugen. Darauf zu sehen war der Kopf von Abdullah Öcalan. Sie skandierten Sprüche, die ich nicht verstand. Eskortiert wurden sie von mehreren Polizisten. Auf dem Platz vor der Kundgebung war dieser begehbare Klotz aus falschem Marmor zu sehen. Davor sammelten sich Menschen, die offensichtlich Einlass begehrten. Überwiegend Frauen standen Schlange, um die neuesten Kreationen der Parfümerie Yves Saint Laurent zu erschnuppern. Eine Pop-Up Boutique in Sichtweite der protestierenden Kurden. Während sich diese um die Freiheit ihres Volkes und ihres Anführers kümmern, stehen hier Menschen Schlange, ein Parfum kennenzulernen, das sie möglicherweise gar nicht bezahlen können.

Ich hatte gerade ein Buch zu Ende gelesen, worin unter anderem das Schlange stehen in der Sowjetunion und dem späteren Russland thematisiert wird. Menschen werden geschildert, die über Stunden anstehen, um Lebensmittel zu kaufen oder Produkte, die nicht immer zu haben sind. Da standen dann Vertreter aller Berufsgruppen neben und voreinander, egal ob Putzfrau oder Professorin. Die Armut machte sie alle gleich, in der Schlange wurde dies sichtbar. Gleich waren sie auch darin, dass sie viele Lebensmittel im eigenen Garten anpflanzten, hegten und ernteten und sie konservierten für den Winter.

Ich musste sehr selten nur Schlange stehen. Und oft entschied ich mich anders, wenn es mir möglich war, nur um dem Anstehen zu entkommen. Die Uni-Mensa, das Hotel-Büffet, die Essensausgabe in der Schule. War die Schlange zu lang, das heißt mehr als drei Personen, dann zog ich weiter. Essen konnte ich auch woanders bekommen oder später zu mir nehmen. Als ich vor kurzem ein Dokument beglaubigen lassen musste, da stand ich von 6:30 bis 7:30 Uhr vor der verschlossenen Tür des Bürgeramts Bremen Mitte. Mit mir warteten am Ende 15 Personen und weil ich so früh schon da war, standen sie alle hinter mir. Dennoch, ich sehne mich nicht danach in einer Schlange zu stehen und zu warten.

Für meinen Geburtstagsabend hatten wir uns ein Restaurant ausgesucht in Düsseldorf mit dem Namen „Chez Robert“. Und weil wir alle frankophil sind, freuten wir uns schon auf den leckeren Abend zu viert. Unsere Freunde kannten das Lokal und sie wussten, dass man dort keine Reservierungen vornehmen kann. Man muss Schlange stehen und warten bis andere Gäste fertig sind, bezahlen, aufstehen und gehen. Während wir in der Reihe standen mit all den anderen Menschen, fragte ich mich, was ich da tue. Ich stehe an aufgrund der Versicherung unserer Freunde, dass das Essen dort exzellent sei. Dass es echte französische Küche wäre und wirklich zu empfehlen. Mein Smartphone zeigte mir ums Eck ein Restaurant mit badischer Küche. Ich verabredete mich mit den anderen, ab 18:30 Uhr dorthin zu gehen, um nach freien Plätzen Ausschau zu halten. Als es soweit war und wir schon über eine Stunde Schlange standen, da hatten wir die Pole Position erreicht. Wer verlässt schon den ersten Platz mit Aussicht auf baldige Wunscherfüllung?

Dennoch, es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich um einen Duft anstehe, um ein außergewöhnliches Essen oder um Nahrungsmittel, die es nur selten gibt. Angesprochen auf die Entbehrungen in ihrer DDR-Zeit und das Schlange stehen, schrieb mir heute eine liebe Kollegin:

„So war es auch in meiner Kindheit. Und diese unnötige Fülle überfordert mich heute noch… Und die andere Seite des „sich zufrieden geben mit dem, was im eigenen Garten wuchs“ […] ist für mich die damit einhergehende Unabhängigkeit, Befriedigung im eigenen Tun und Möglichkeit, der Natur ganz nah zu sein und mit ihr im Einklang zu leben. Die Früchte zu essen, wenn sie wachsen / reif sind – oder mit viel Aufwand einkochen oder im Steinkrug ansetzen – bedeutete zu wissen, wann die Natur was für uns bereit hält. Dieses Gefühl konnte ich meinen Kindern nur bedingt mitgeben. Diese ständige Verfügbarkeit von Dingen hat bei mir zu einem Verlust an Vorfreude geführt, den ich tatsächlich sehr in meinem Leben vermisse.“

Nicht, dass ich es uns allen wünsche, solche Erfahrungen machen zu müssen. Ich bin immer wieder froh, wenn ich merke, dass mich die Verlockungen der Warenwelt nicht mehr erreichen und mir die wesentlichen Dinge wichtiger sind. Dazu zählen Freundschaft, Liebe und Verbundenheit.