Glück auf

Das Wochenende über haben wir in Gelsenkirchen verbracht. Genauer gesagt, in seinem Ortsteil Horst. Dieser Ortsteil ist seit sechzig Jahren der Wohnort von Opa Dieter, wie er fast nur noch genannt wird. Er ist Kerstins Vater, mein Schwiegervater und der Opa unserer zwei Kinder. Nach dem Auszug von Kerstin vor sehr vielen Jahren und dem Tod seiner Frau lebt Opa Dieter allein in der dreieinhalb Zimmerwohnung. Er hat sich eingerichtet im ehemaligen Kinderzimmer. Dort sitzt und liegt er auf der Couch mit Blick auf seinen Fernseher, sein Tablet, das Festnetztelefon, seinem alten Nokia Handy und das neue Seniorenhandy. Hier liegen in Griffweite auch seine Medikamente, die Schreiben die er seiner Post entnommen hat und alle Ordner mit Dokumenten. Ich nenne diesen Raum seine Zentrale. Von hier aus empfängt er Anrufe, wenn es welche gibt. Von hier aus telefoniert er mit seiner Tochter ab und an. Hier erhält er seine Informationen über das Weltgeschehen und vor allem über sportliche Ereignisse. Während hier Bild und Ton aus dem Fernseher seinen Alltag mit Abwechslung versorgen, erklingt in der Küche aus dem Radio WDR 4 mit den Songs der achtziger Jahre.

Anlass für unseren Besuch war der 85ste Geburtstag von Opa Dieter. Alle seine nahen Angehörigen waren versammelt, Tochter, Schwiegersohn, zwei Enkelkinder und die Tochter seines Schwagers. Alle mit Partner und Partnerin. Ein Familienfest, das seinen Höhepunkt im nahegelegen Lokal fand auf dem Gelände einer ehemaligen Zeche. Der Ortsteil Horst zeichnet sich aus durch ein ehemaliges Schloss und das direkt an der Durchgangsstraße gelegene langgestreckte Gebäude der marxistisch-leninistischen Partei Deutschlands, MLPD. Erinnerungen an alte Zeiten und Überbleibsel, die mir fremd vorkommen. Auch das Gebäude, in dem wir übernachteten zeigt Spuren einer vergangenen Welt. Wir hatten Zimmer gebucht im nahegelegenen Arbeiterbildungszentrum. Die Zimmer waren günstig und lagen in Laufweite zum Wohnort unseres Jubilars. So konnten wir uns frei bewegen und wem das Aufeinanderhocken zu viel wurde, konnte sich zurückziehen.

Im Frühstücksraum unserer Unterkunft begegneten uns Männer, die an einer Weiterbildung teilnahmen. Welcher Art diese war, fanden wir nicht heraus. Wir fragten auch nicht danach. In einer Glasvitrine waren Bücher ausgestellt, die man am Empfangstresen käuflich erwerben konnte. Darunter Titel, die an jene Zeiten erinnerten als Arbeitskämpfe noch Teil des Alltags im Ruhrpott waren. Neben dem Manifest der Kommunistischen Partei gab es „Marx und Lenin to go“, die Zusammenfassung der marxistisch-leninistischen Theorie für Menschen mit geringer Aufmerksamkeistspanne. Für alle, die es genauer wissen wollen, liegt dort der Teil III der „Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ und ein Büchlein des Mitbegründers der MLPD, Willi Dickhut, mit dem Titel „So war’s damals. Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926 – 1948“. Die Welt der Arbeitskämpfe im Ruhrgebiet liegt hier nachlesbar ausgebreitet neben den Frühstückstischen. Aber wen interessiert dies alles noch?

Beim Spaziergang durch den Ortsteil Horst fallen die heruntergekommenen Fassaden auf, die Kioske, die Dönerbuden und dazwischen ein Rossmann- und ein Lidl-Markt. Trotz Wochenende sind nicht viele Menschen auf den Bürgersteigen unterwegs. Der Himmel ist blau, wir haben Glück, denn bei grauem Himmel wirkt die Umgebung noch trister als jetzt mit Sonnenschein. Hier wollen wir nicht wohnen, beteuern wir uns gegenseitig auf der Heimfahrt. Und wir sind froh, wieder zurück zu kommen nach Bremen, nach Berlin, nach Freiburg. Opa Dieter hat diese Möglichkeit nicht. Allein schon durch seine Gehbehinderung bleiben ihm nur wenige Quadratmeter innerhalb seiner Wohnung. Ab und an quält er sich die Treppen runter, um vom dritten Stockwerk in die Einkaufsmärkte zu gelangen mit Hilfe seines Elektromobils.

Was wird geschehen, wenn ihm dies nicht mehr möglich ist? Wäre er bereit, seine Wohnung aufzugeben für eine Erdgeschosswohnung oder gar einem Zimmer in einer Altenwohnanlage? Das fragen wir uns als wir zuhause sind und wissen, dass dies nicht einfach sein wird. Sagte er vor Jahren noch mit kräftiger Stimme, hier bekommt man mich nur raus mit den Füßen voran, so klingt das heute nicht mehr sehr überzeugt. Da wird dann die Zeit für eine Entscheidung sorgen, Überredung und Zwang sind hierbei völlig fehl am Platze. Als Geburtstagsgeschenk hatte ich einen Kalender zusammengestellt mit Bildern aus seiner Zeit bei Rot-Weiß Essen. Damals war er jung, groß und stark, das lässt sich den Bildern gut entnehmen. Heute mit seinen fünfundachtzig Jahren sind Spuren davon noch zu erkennen. Besonders dann, wenn er von seinen Erinnerungen erzählt, von seinen ehemaligen Fussballkameraden und Arbeitskollegen. Wenn er die Glanzlichter der Vergangenheit zum leuchten bringt, seine Freude kundtut über die vielen Feste, die sie gemeinsam feierten zu Geburtstagen, Kindertaufen, Beförderungen und Hochzeiten. Zeit seines Lebens war Opa Dieter ein sehr geselliger Mensch. Diese Zusammenkünfte gibt es heute nicht mehr. Seine letzten Versuche, einen alten Kollegen telefonisch zu erreichen, gelangen nicht. Niemand nahm ab.

„Glück auf“ war der Gruß der Bergleute, wenn sie in ihr Bergwerk einfuhren. Erhofft und gewünscht wurde damit auch ein gesundes Ausfahren nach der Schicht. Das möchte ich auch meinem Schwiegervater wünschen, in der Hoffnung, dass er sein Lebensende in einer Umgebung verbringen kann, wo ihm ein würdevolles Leben unter wohlwollenden Menschen ermöglicht wird. Soweit es uns möglich ist, werden wir ihm dabei behilflich sein.