Wie geht sterben?

Das habe ich mich gefragt auf dem Heimweg von einem Besuch bei einer Sterbenden. Sie sei bereit, sagte sie, ohne dass ich sie danach gefragt hatte. Ich weiß nichts über ihre Vorgeschichte, nichts über ihr Leben, weiß nicht einmal wie alt sie ist. Sie habe viele Freunde, wurde mir gesagt. Als ich eintraf, da saß eine Frau an ihrem Bett und las aus einem Buch vor. Ich stellte mich vor, man wusste von mir, und war einverstanden, wenn ich in einer Stunde wieder vorbei käme.

So lernte ich die Cafeteria des Krankenhauses kennen. Man zahlt dort mit Bargeld, ich hatte keines bei mir. Dennoch durfte ich den Kaffee trinken und meinen Kuchen essen, das Geld könne ich mir am Automaten holen im Eingangsbereich. Streuselkuchen und Filterkaffee. Etwas von beidem ist mir nicht bekommen, ich hatte Magendrücken danach. Oder war es das Thema Sterben, das mir auf den Magen schlug? Ich hatte schon einige Wochen niemanden mehr beim Sterben begleitet, jetzt diese geistig sehr wache Frau. Als ich ins Zimmer komme, liegt sie im Bett, eines, das sich in allen möglichen Positionen verstellen lässt. Auf mich macht sie den Eindruck als läge sie sehr unbequem. Ob ich ihr Kopfteil etwas runter stellen soll, frage ich sie. Sie willigt ein und ich fahre sie mit Hilfe der Tasten am Bettrand in eine mehr waagerechte Position. Sie habe Schmerzen im Arm, ob ich ihr was holen könne dagegen.

Ich merke wie froh ich bin etwas tun zu können. Das bringt mich wieder zurück auf die Frage, was denn eigentlich meine Aufgabe ist in der Sterbebegleitung. Die Freundin liest vor. Ein Freund, den ich später noch kennenlernen durfte, begrüsst sie mit vielen Worten mit vielen Berührungen. Er berichtet von Grüßen, die er ausrichten soll von einer gemeinsamen Bekannten. Und als ich im Gehen begriffen bin, da ist er schon im Erzählen über das was Draußen alles passiert. Ich verabschiede mich und verlasse den Raum mit dem Hinweis wieder zu kommen. Auf dem Heimweg fällt mir ein wie gut es doch ist, Freunde zu haben, die am Sterbebett sich abwechseln. Und ich frage mich, ob ich das haben wollte in solch einer Situation. Diese, wie ich sie empfinde, Betriebsamkeit. Als müssten alle Freundinnen und Freunde beweisen, dass sie da sind, indem sie etwas tun: Vorlesen, erzählen, berühren, berichten.

Vorhin war ich wieder dort und die Sterbende lag da, als ob sie schliefe. Ich klopfte und fragte, ob es recht sei, wenn ich da bin. Ich hatte mich zuhause schon gefragt, ob ich ein Buch mitnehmen sollte, ob ich Fragen (existentielle?) hätte, die ich erörtern möchte. Ich komme zu einer Sterbenden und verfalle wieder in den Glauben, ich müsse etwas tun. Es sei ok, wenn ich da bin und ich möge ihr das Kopfteil etwas herunter lassen. Danke, sagt sie und schließt die Augen. Ich setze mich in Sichtweite auf einen Stuhl und bin da. Ich muss nichts tun, keine Fragen stellen, keine Geschichten erzählen, keine ungefragten Antworten erteilen. Einfach da sein ist genug. Das ist wie Sitzwache, fällt mir ein. Ich wünschte, jemand wäre bei mir, wenn ich mich in solch einer Situation befinde. Keine Antworten geben zu müssen, keine Geschichten von Draußen hören zu müssen, kein Entegegenkommen zeigen zu müssen für die Besucher. Einfach sein zu dürfen und zu wissen, ich bin nicht allein.


Abbildung: Tomasz Sienicki – Eigenes Werk, Gemeinfrei