Streng genommen müsste ich „Bei der Frisörin“ schreiben. Sie heißt Julia und ab heute sind wir per Du. Ich gehe nun schon mehre Jahre in ihren Salon gleich um die Ecke und war der Meinung, dass es Zeit wäre sich zu duzen. Nein, meinem Monteur, der seit Jahren die Heizung wartet, hätte ich dies nicht angeboten. Der Kontakt mit Julia ist etwas Besonderes. In der kurzen Zeit während sie meine Haare auf Vordermann bringt, sprechen wir miteinander über alles mögliche. Aber nicht über Gott und die Welt, sondern meist über Themen, die mit uns zu tun haben.
Heute sprach ich schon beim Frühstück mit Kerstin über das Phänomen Angst. Erst kürzlich benannte eine Freundin ihr Entsetzen über die Wahl in den USA. Eine andere empörte sich über den russischen Präsidenten Putin. Vor einigen Jahren war das Thema Angst verbunden mit einem Virus, das plötzlich überall sein Unwesen trieb. Wie kommt es, fragten wir uns, dass Menschen in Deutschland ihre Angst an Personen in anderen Ländern festmachen? Was hat Frau Mustermann mit Trump zu tun? Was hat Herr Mustermann mit Putin zu tun? Und kann es sein, dass eine sowieso vorhandene diffuse Angst in diesen Namen und Personen einen Anker findet? Jetzt lässt sie sich zuordnen, jetzt sind es außenstehende Personen und Mächte, die meine Angst erzeugen?
Schau unter das Bett, wurde uns früher geraten. Du wirst sehen, da sind keine Monster. Aber genau das fällt ja so schwer. Wenn ich mich hinabbeuge, um dies zu erkennen, werden mir die Monster den Kopf abreißen! Da schaue ich nicht hin. Mir ist es wichtig, dass ich gesund bleibe, dass meine Familie gesund bleibt, sagt Julia. Davor habe sie Angst. Angst davor, dass sie selber krank wird oder eines ihrer Kinder oder ihr Mann. Die Familie sei das Wichtigste für sie. Julia kam mit zwanzig Jahren aus Russland nach Bremen. Sie stammt aus einem Dorf, das überwiegend von deutschstämmigen Russen bewohnt wurde. Viele der alten Menschen dort konnten kein Russisch, nur Deutsch. Der familiäre Zusammenhalt war für das Überleben wichtig. Sie mussten zusammenhalten, auch gegen die einheimische Bevölkerung, die sie mit Argwohn betrachtete.
Fremd im eigenen Land, so kommt es mir vor, wenn ich ihren Erzählungen lausche beim Haare schneiden. Heute erfährt sie wieder Misstrauen, wenn sie gesagt bekommt, dass die Russlanddeutschen als Quelle dienen für russische Propaganda. Diese Menschen verstünden ja Russisch und sie würden die fake news der Russen weitertragen. Das erzählte sie mir heute und wir waren uns schnell einig, wer uns hier in Deutschland Angst macht. Es sind jene Politiker und Politikerinnen, die sich stark machen für eine Ausweitung des Stellvertreterkrieges in der Ukraine durch Bodentruppen der NATO, durch noch mehr Lenkwaffen. Jene Politiker, die von einer friedlichen Kooperation zwischen den Völkern nichts wissen wollen.
Julia verabschiedete sich von mir mit den besten Wünschen an meine Familie und geruhsame Weihnachtstage in deren Kreis. Sie teilte meine Freude, als ich ihr erzählte, dass wir dieses Jahr mit Freunden am Bodensee gemeinsam feiern werden. So wie damals, als wir noch am See wohnten und uns zu Weihnachten trafen, um mit Kind und Kegel, mit Freunden und manch einem Verwandten die Weihnachtstage bei gemeinsamem Kochen, Essen und Trinken begangen. Manch nachdenkliches Gespräch hatte dabei auch seinen Platz. Fast wie im Frisörsalon von Julia.